Wie schweizerisch ist die Schweiz?

Bern, 26.05.2021 - Rede von Bundesrat Alain Berset «100 Jahre Friedrich Dürrenmatt – Buchvernissage «Stoffe»-Edition». Es gilt das gesprochene Wort.

Wir feiern heute Friedrich Dürrenmatts Spätwerk «Die Stoffe», gedruckt und digital. 30'000 Seiten, die seit 30 Jahren in seinem Nachlass lagerten, werden nun, zum 100. Geburtstag von Dürrenmatt, für die Schweiz und die Welt lesbar. 

Eine herkulische Leistung, aber natürlich, das sei sogleich betont, alles andere als ein grosses Ausmisten: Vielmehr ein literarisch-philosophisches Ereignis – wie schreibt doch Dürrenmatt in STOFFE I-IX:  «Die Stoffe sind die Resultate meines Denkens, die Spiegel, in denen, je nach ihrem Schliff, mein Denken und damit auch mein Leben reflektiert wird. »

Kurz: Wir haben heute einen doppelten Anlass, den grossen Dramatiker und Denker zu feiern. 

Aber gerade das bringt mich in Verlegenheit. Denn Dürrenmatt hat einst die Erwartungshaltung der Schweizer Bevölkerung an ihre Staatsvertreter so beschrieben: «Die Nervenzusammenbrüche unserer Politiker und Beamten sind uns lieber als ihre Freudentänze. »    

Ich werde mich also hüten, hier einen Freudentanz aufzuführen. Anderseits ist das ja ein festlicher Anlass. Da macht sich natürlich auch ein Nervenzusammenbruch schlecht.

Sie sehen: Ein Dilemma! Und ich verrate Ihnen ja kein Geheimnis, was wir beim Bund machen, wenn es schwierig wird. Wobei: «schwierig» sagen wir nicht – wir sagen: «heikel».

Wenn es also «heikel» wird, dann setzen wir eine Kommission ein. «Bilden wir eine Kommission», ruft einer in Dürrenmatts «Herkules und der Stall des Augias», einer Satire über die Schweizer Politik. Und die anderen quittieren vielstimmig: «Beschlossen schon, wir bilden eine Kommission! » 

Apropos Kommission: Dürrenmatt war in «Herkules» bei allem milden Spott über demokratische Prozesse staatspolitisch durchaus innovativ. Er erfand nämlich zwei zusätzliche Gremien: Die «Zwischenkommission» und die «Oberkommission». 

Der Bundesrat hat entschieden, anlässlich von Friedrich Dürrenmatts 100. Geburtstag die Einführung von Zwischen- und Oberkommissionen zu prüfen. Er hat zu diesem Zweck eine Kommission eingesetzt. 

«DIE GROTESKE DES VERSCHONTSEINS» UND IHRE LANGZEITFOLGEN 

Wie würde eine Kommission das Thema «100 Jahre Dürrenmatt» angehen? 

Sie würde zuerst einmal eine saubere Auslegeordnung vornehmen. Und die biographischen Eckdaten definieren. Und schon hätte man einen Befund, der für einen ersten Zwischenbericht reichen würde:  Dürrenmatts Schaffen fällt in die Zeit des Kalten Krieges. 

Ok, das ist noch kein geistiger Durchbruch. Aber Dürrenmatts Schaffen und der Kalte Krieg decken sich grotesk genau.  

Den offiziellen Anfang des Kalten Krieges markierte die Truman-Doktrin vom 12. März 1947. Und Dürrenmatts erstes Theaterstück «Es steht geschrieben», wurde fünf Wochen später, am 19. April 1947, am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt. 

Und seine letzte Rede in der Heimat – «Die Schweiz – ein Gefängnis» hielt Dürrenmatt am 22. November 1990, genau einen Tag, nachdem der Kalte Krieg offiziell beendet worden war in der «Charta von Paris». Drei Wochen später, am 14. Dezember 1990, starb Friedrich Dürrenmatt 

HEROISIEREN ODER VERTEUFELN? 

Dürrenmatt war als politischer Denker natürlich weit mehr als ein kritischer Zeitzeuge des Kalten Krieges. Denn in seinem Denken – und hier wurzelt sein Sinn fürs Groteske – war die geistige Atmosphäre des Kalten Kriegs eben nur verständlich, wenn man sie auch als Resultat der helvetischen Erfahrungen im Krieg begriff. 

Ich zitiere aus „Schweiz als Wagnis“ von 1966: „Die Schweiz erlitt nach dem Krieg einen Schock. Sie war von einem Europa umgeben, in welchem es von Siegern wimmelte, die uns als Kriegsgewinnler betrachteten und durchaus nicht als Heldenvolk. Darauf entschlossen sich viele Schweizer, vor allem Politiker, zum Teil instinktiv, nun die Helden des Kalten Kriegs zu werden. Wer ein schlechtes Gewissen hat, wird leicht doktrinär.“ 

Für die einen war die Schweiz also wehrhaft, heldenhaft. Für die anderen opportunistisch, schuldbeladen. Dürrenmatt lehnte beide Haltungen ab: Die Selbstüberhöhung. Aber auch die Selbstgeisselung. 

In «Schweiz als Wagnis» konstatiert er: «Man kann die Schweiz von heute nicht heroisieren, aber man kann sie auch nicht verteufeln; das gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für ihre Gegenwart. » 

Heroisiert und verteufelt – dichotomer geht es nicht. Aus heutiger Sicht stellt sich unwillkürlich die Frage: Ist das der Anfang der polarisierten Selbstwahrnehmung der Schweiz? 

LUST AN DER DEMOKRATIE STATT VERBISSENHEIT UND VERKRAMPFUNG 

Auch heute noch prägt diese binäre Sichtweise – heldenhafte Schweiz, schuldbeladene Schweiz – unsere politischen Debatten. 

Wie es in den «Stoffen» heisst: «So leicht bilden wir uns ein, im Bilde zu sein» Und das, obwohl dieser simple Code an der unübersichtlichen Gegenwart zuverlässig scheitert. 

Alle die grossen Themen - von der Globalisierung über den Klimawandel und die Migration bis hin zur extremen Ungleichheit – können nur dann wirklich angepackt werden, wenn wir sie ehrlich und ergebnisoffen diskutieren können. Im Bewusstsein, dass wir alle betroffen sind. Und dass wir deshalb alle in der Verantwortung stehen. 

Wie heisst es doch in Dürrenmatts berühmten «Physikern»: «Was alle angeht, können nur alle lösen». 

Aber was erleben wir?  Gespaltene Gesellschaften. Nicht nur in den USA, wenn auch dort ganz besonders. 

Auch bei uns in Europa müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht einfach in unsere Blasen der Gleichgesinnten verabschieden. Auch bei uns gilt es, dem Konformitätsdruck des eigenen Milieus zu widerstehen, auch wenn das vielleicht unbequem ist. Oder vielmehr gerade, weil es unbequem ist. 

Wir alle müssen vielleicht wieder häufiger mit jenen Leuten sprechen, die die Welt völlig anders sehen, die dort Gefahr wittern, wo wir Chancen sehen. Und dort Chancen, wo wir im Geiste verängstigt zurückweichen. 

Wenn uns etwas schwächt, dann ist es Separatismus. Auch wenn er als beleidigtes Schweigen daherkommt. Oder als passiv-aggressives Schmollen. Oder als milde Herablassung. 

Wie schreibt doch Dürrenmatt in «Die Schweiz als Wagnis»: «Ich glaube, die Schweiz sollte einfach keine Angst haben. (…) Sie sollte ein sehr freches Land sein, die Auseinandersetzungen, das Gespräch nicht fürchten. » 

Das Gespräch nicht fürchten. Das war damals, im Kalten Krieg, ein Appell eines besorgten Beobachters. Heute klingt es schon fast wie ein verzweifelter Weckruf. In diesem Punkt ist der politische Dürrenmatt gut gealtert – leider, muss man anfügen. 

Wenn man heute sagt, ohne Kompromisse könne es keine Demokratie geben – eine Banalität sondergleichen – und mit dieser Banalität auf murrende Zustimmung stösst, wird das schon als demokratiepolitische Sternstunde gefeiert.

Damit dürfen wir uns als Gesellschaft nicht zufriedengeben. Lassen Sie uns mit Dürrenmatt weitergehen, viel weiter! 

Dieser plädierte nämlich für nichts weniger als «Spass an der Demokratie, Spass am Neuen». «Ohne Spass am Neuen», so Dürrenmatt 1966, «gibt es keine Demokratie». 

Spass: Das ist das exakte Gegenteil der Rechthaberei in all ihren Ausformungen. Das ist auch das Gegenteil des leisen Tadels an die Adresse all jener, die dem Zeitgeist vielleicht zu wenig enthusiastisch frönen. Und das ist auch das Gegenteil der kategorischen Vorsicht, die viele walten lassen, um dem drohenden «shit storm» zu entgehen. 

Gerade unser Land braucht das offene nationale Selbstgespräch. Denkverbote und Redehemmungen – sie schwächen uns noch mehr als andere. Denn wenn eine Staatsform die immerwährende Debatte braucht, dann ist es unsere halbdirekte Demokratie. 

MEHR IDEEN FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT

Aus der „Groteske des Verschontseins“ entstand vieles, was die Schweiz hinderte, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Aber in der stabilen Welt des Kalten Krieges, in der die Schweiz sich in ihrer geopolitischen Nische recht behaglich einrichten konnte, wurstelte man sich auch ohne die «Lust am Neuen» höchst erfolgreich durch. 

Heute gibt es dieses Leben in der Nische nicht mehr. Die Verhältnisse sind – innen- wie aussenpolitisch – unübersichtlicher geworden, volatiler, fragiler. Und die Schweiz ist mittendrin, sie ist eines der globalisiertesten Länder. Es gibt kaum ein Thema, das uns nicht auch stark betrifft: Von der Sicherheit über die Wirtschaft bis zur öffentlichen Gesundheit. 

Zwar gilt die Schweiz weltweit als Land der Stabilität. Aber wer sich die Zukunft als schlichte Verlängerung der Vergangenheit vorstellt, muss sich Naivität vorwerfen lassen: Handelt es sich wirklich um eine rationale Einschätzung der Lage? Oder eher um eine Stabilitäts-Illusion, der wir anhängen, weil es „ja immer gut ging“? Klaffen vielleicht auch heute unsere Selbstwahrnehmung und die Realität auseinander? 

Im dieser unruhigen Zeit, in dieser neuen Welt-Unordnung, gilt: Wir brauchen als eher kleiner Staat pragmatische Strategien, wir müssen in Szenarien und Optionen denken. Kreativ, vielleicht sogar lustvoll.

Aber tun wir das? 

Wir leben unter unseren Möglichkeiten, davon war Dürrenmatt überzeugt. In seinem Schweizer Psalm I heisst es: «Nicht das liebe ich, was Du bist, nicht das, was Du warst, aber Deine Möglichkeiten liebe ich». 

MEHRSPRACHIGKEIT: MEHR DRAUS MACHEN!

«Deine Möglichkeiten liebe ich» - das galt für Dürrenmatt auch in Bezug auf unsere Mehrsprachigkeit. 

Sie erscheint uns ja häufig eher als Last. Auch ich kämpfe regelmässig mit Wortprozessionen wie «Zirkularverfahrensrichtlinien» oder «Kulturbotschaftvernehmlassungseröffnung». 

Ich kann den Alemanninnen und Alemannen versichern: Das Frühdeutsch ist auch nicht viel angenehmer als das Frühfranzösisch. Aber ich weiss auch: Wer aufhört zu lernen, wird alt – allerdings wird man manchmal auch alt, bis man es gelernt hat. 

Ich höre im Gegenzug Deutschschweizern nicht ungern dabei zu, wie sie sich mit dem «subjonctif plus-que-parfait“ abkämpfen. Il fallait qu'ils fussent partis avant midi. Ich will schliesslich auch etwas zu lachen haben.

Aber vor lauter Schweiss und Tränen der Heiterkeit dürfen wir nicht vergessen: Unsere Mehrsprachigkeit ist eigentlich ein Privileg und birgt grosses Potential. Wir haben Trümpfe, aber wir spielen sie nicht aus. 

Ich zitiere aus Dürrenmatts «Dramaturgie der Schweiz». «Das Problem sind nicht die Gegensätze (zwischen den Sprachregionen), (…) schwer wiegt nur, dass nichts aus diesen Gegensätzen entsteht, dass man die Chance nicht nützt, diese Gegensätze zu haben. »  

Und weiter: «Ein Deutschschweizer, der nicht über die französische Kultur, und ein Welscher, der nicht über die deutsche Kultur informiert ist, haben eine Chance verpasst, die ihnen eigentlich gerade die Schweiz bieten sollte.»

Unsere Mehrsprachigkeit ist auch erfolgsträchtig, was unsere internationale Stellung angeht – kulturell, politisch, wirtschaftlich. Und die Schweiz hat oder eben: hätte, eine beträchtliche „soft power“ – um es auf Frühenglisch zu sagen, eine „soft power“, die wir wieder mehr nutzen sollten.

Wenn wir unsere Möglichkeiten als mehrsprachiges Land, wirklich ernst nähmen, würden wir die Schweiz gleich doppelt stärken – im Innern und gegen aussen. 

UNSEREN SINN FÜRS GROTESKE STÄRKEN   

Kein Begriff ist so eng mit Dürrenmatts Werk verbunden wie der des Grotesken. Vielleicht ist es bezeichnend, dass dieser Begriff sich einer klaren Definition entzieht.

Ist es das Aufeinanderprallen von Gegensätzen? Oder die Gleichzeitigkeit dessen, was eigentlich ungleichzeitig ist? Ist es die Kluft zwischen Rhetorik und Realität, zwischen Selbst- und Fremdbild? Ist es das Lachen angesichts des Grauens? Ist es das Absurde, das sich als Normalität tarnt? Also sozusagen der «courant a-normal?»

Das und noch mehr. Das Groteske als Denk-Methode besteht darin, das zusammenzudenken, was allgemein als nicht zusammengehörig gilt. Hier wurzelt seine politische Kraft – manchmal sogar seine Sprengkraft.

Das Groteske ist viel präziser als der gängige kritische Kommentar, weil es die Widersprüchlichkeit sucht, statt sie durch eine Extraportion Meinung zu eliminieren. Denn bevor man sie verändern kann, muss man die Verhältnisse in ihrer ganzen Abgründigkeit erst einmal zur Kenntnis nehmen.

Das Groteske schärft unseren Sinn für die Möglichkeiten, die im Faktischen schlummern. Und es verweist auf die wahren Kosten des polarisierten Denkens: Nämlich dass uns das Wesentliche entgeht, das zwischen den Polen nistet, das Widersprüchliche, das Abgründige, das Verwirrende. Echtes politisches Engagement muss bei einer realistischen Analyse ansetzen – und das heisst eben: bei einer Analyse des Grotesken.

DAS GROTESKE PRÄGT DIE GEGENWART   

Diesen Blick fürs Groteske – es braucht ihn heute ganz besonders.

Nehmen wir nur die groteske Ungleichheit: Acht Amerikaner sind so reich wie die ärmere Hälfte der USA, also so reich wie 170 Millionen Menschen zusammen. Und das wird von den meisten einfach schulterzuckend zur Kenntnis genommen.

Nehmen wir den Wahrheitsbegriff, der sich seit einiger Zeit aufzulösen scheint. Manche Kreise glauben grundsätzlich nicht mehr, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen. Und schon gar nicht, wenn es deren eigenes Fachgebiet betrifft. Dem kommt man nur mit der Kategorie des Grotesken bei.

Das gilt auch für die Tatsache, dass sich in den «social media» eine kleine Gruppe als «vox populi» gebärdet, dass also eine Minderheit durch Lautstärke gefühlt zur Mehrheit wird.

In «Anmerkungen zur Komödie» schreibt Dürrenmatt, ich zitiere: «Das Groteske ist eine der grossen Möglichkeiten, genau zu sein. Es kann nicht geleugnet werden, dass diese Kunst die Grausamkeit der Objektivität besitzt, doch ist sie nicht die Kunst der Nihilisten, sondern weit eher der Moralisten.»     

Das ist gerade das Besondere an Dürrenmatt als politischem Denker: Dass er sich nicht abwendet von der als grotesk erkannten Realität, sondern sich trotzdem engagiert. Gerade sein tief pessimistisches Menschenbild führte ihn zur Wertschätzung des Rationalen, des Fortschritts, des Wissens, der Wissenschaft.

Friedrich Dürrenmatt ist das Gegenteil eines naiven Aufklärers. Er ist ein aufgeklärter Aufklärer.

Dürrenmatt beurteilt die Schweiz – die reale Schweiz, nicht die ideale Schweiz – realistischer als jene, die von der Rationalität ihres eigenen Denkens überzeugt sind. Weil er der Macht des Faktischen widerstand. Weil er nicht in die helvetische Mentalitäts-Falle des «Es ist wie es ist» tappte. Und eben auch nicht in die Falle der wohlfeilen Utopie des «Es müsste alles anders sein».

Die Schweiz, davon war Dürrenmatt überzeugt, hat viel Potenzial. Mehr als sie selber erahnt.

Deshalb ehren wir Werk und Wirken von Friedrich Dürrenmatt am besten, indem wir uns selber hin und wieder fragen: Wie schweizerisch ist eigentlich die Schweiz?


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