Tiefenscharf und hoch politisch

Bern, 25.01.2018 - Rede von Bundespräsident Alain Berset anlässlich der Solothurner Filmtage. Es gilt das gesprochene Wort.

Die Solothurner Filmtage sind jetzt 53 Jahre alt. Höchste Zeit für eine «midlife-crisis». Könnte man meinen. Aber dieser Logik entziehen sich die Filmtage – und mit ihnen der Schweizer Film.

Fredi Murer schrieb zum 50-jährigen Jubiläum der Filmtage Solothurn: «Seit 1966 liest man nach den Solothurner Filmtagen Jahr für Jahr der Schweizer Film sei in der Krise.» Da stellt sich natürlich die Frage: In welcher Krise genau befinden wir uns im Jahre 2018? Wir: Das ist der Schweizer Film, aber vielleicht eben auch unsere Gegenwart ganz allgemein – denn die Filmtage verkörpern den Zeitgeist ja traditionell sehr präzise. Man riskiert momentan wenig, wenn man vermutet: Es ist eine Krise der Verunsicherung.

Die Solothurner Filmtage waren immer ein Ort der Debatte, der Wahrheits- und Wahrhaftigkeitssuche. Ein Ort, an dem mit filmischen Mitteln die Zeitläufte reflektiert wurden. Aber ebenso sehr auch ein Ort, an dem anhand von Filmen über die Gesellschaft nachgedacht wurde – über die Welt, über die Schweiz. Und nicht zuletzt über den Film als politisches Medium.

Wenn plötzlich alles Interpretationssache ist

Die Verhältnisse sind nicht einfach, wie sie sind. Das war die Prämisse all dieser engagierten Debatten der letzten Jahrzehnte. Die Verhältnisse sind interpretierbar, veränderbar, gestaltbar. Aber jetzt leben wir – fast muss man sagen: unverhofft – in einer Welt, in der die Interpretierbarkeit des scheinbar Objektiven plötzlich nicht mehr als kreative Weltdeutung erscheint. Sondern als deren exaktes Gegenteil: Indem alles nur noch als Interpretationssache gilt, indem wirtschaftliche und soziale Fakten, ja sogar wissenschaftliche Erkenntnisse, einfach so zur politischen Knetmasse mutieren, werden die Verhältnisse zementiert, und kommt der Fortschritt zum Stillstand.

Wie reagieren? Vielleicht, indem man noch heftiger debattiert? Doch da stellt sich, gerade an einem Ort wie Solothurn, die Frage: Was, wenn man nur noch sich selbst erreicht? Was, wenn man nur noch die Überzeugten überzeugt? Was, wenn die Kritiker der Filterblase ihrerseits in einer Filterblase sitzen? 

Wie also reagieren auf die Verunsicherung? Mit Ironie, Scherz und Satire? Das drängt sich auf. Aber man muss sich der Gefahr bewusst sein, dass man Missstände immer auch legitimiert durch Ironisierung. Parodie als politischer Eskapismus.

Die Ungleichheit verschwindet nicht einfach

Oder soll man vielleicht einfach in Deckung gehen, bis die Welle des Post-Faktischen, der grossen Wut über uns geschwappt ist? Bis sich der diskrete Charme der Biegung und Dehnung des Wirklichkeitsbegriffs von selber erledigt hat? Das kann man tun und vielleicht bleibt einem gar nichts anders übrig. Aber man darf nicht naiv sein: Die Treiber des verbreiteten Unmuts – vielerorts wachsende Ungleichheit, kulturelle Verunsicherung durch Migration, der rasante Wandel der Arbeitswelt durch Globalisierung und Digitalisierung – all das wird nicht einfach verschwinden. Bis es besser wird, kann es dauern. Bis es besser wird, kann es erst zuerst noch schlechter werden.

Man sollte eine Krise nie ungenutzt verstreichen lassen. Vielleicht hat ja das Medium Film eine Antwort auf die geistige Situation der Zeit. Eine Antwort, die allenfalls sogar konstruktiver ist als all das, was die Politik, was der Intellekt, was die Sprache an Mitteln zur Verfügung hat.

Die empathische Macht des Films

Der Film kann uns nämlich zu teilnehmenden Beobachtern machen – ganz ohne Kommentierung, ganz ohne ideologische Codierung. Vielleicht sollten wir uns darauf verlassen, dass Bedeutung in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer entsteht.

Und nicht, indem uns ein allwissender Erzähler aus dem Off gedanklich lenkt.

Genau das ist die Philosophie des «direct cinema», in dessen Tradition der Regisseur Fernand Melgar mit seinem Film «À l’école des philosophes» steht, den wir uns heute Abend zusammen ansehen werden. Worin besteht die Magie des «direct cinema»? Es zieht uns in die Handlung hinein, indem der Gegenstand des Films und wir, das Publikum, verschmelzen.

Was uns der Eröffnungsfilm über das Leben der anderen lehrt – die in diesem Fall fünf Kinder mit Behinderung sind, die sich allmählich ihren Zugang zur Welt erschliessen – das vermag wohl nur das «direct cinema». Die fünf Kinder – Albiana, Chloé, Louis, Léon und Kenza – und ihre Eltern, ihre Betreuerinnen: Sie durchleben ein Abenteuer des Alltags, sie machen Fortschritte, sie erreichen viel zusammen: Ein besseres Leben.

Bilder verändern unser Denken

Aber der Film zeigt uns auch schonungslos die Schmerzen und die Hoffnungen dieser Kinder. Die Schmerzen und die Hoffnungen ihrer Eltern. Wer diesen Film gesehen hat, wird wohl über die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in unsere Gesellschaft nicht mehr gleich denken wie zuvor. Und vielleicht ganz generell über Menschen, die nicht zu den Starken, Gesunden, Leistungsfähigen gehören.

Wie heisst es doch in der Präambel der Bundesverfassung: «… und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.» Dieser Film ist nicht einfach eine Illustration des Verfassungs-Artikels. Er eröffnet uns erst den emotionalen Zugang zu diesem oft beschworenen Grundwert unseres Zusammenlebens.

Dieser Film ist hoch politisch, indem er tief politisch – tiefenpolitisch – ist. Er zeigt uns die Folgen politischer Entscheidungen in ihrer ganzen existentiellen Tiefe. Das direkte Kino konfrontiert uns mit dem Gedanken, dass vielleicht jene Reflexion die präziseste ist, die wir selber anstellen.

Der Reichtum der Realität

Es ist nicht einfach, wie es ist. Die Realität ist verblüffend, bereichernd, manchmal gar faszinierend. Man verliert etwas, wenn man die Fakten nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Fernand Melgars Film zeigt uns die Realität in ihrem ganzen Reichtum.

Was ist „direct cinema“? Ein Medium der Empathie. Und was ist Empathie? Das Gegenteil von Rechthaberei. Das Gegenteil des Meinungskampfes, in dem der Gegner zum Feind mutiert. Und die Realität zur Karikatur, mit der wir unser jeweiliges Weltbild illustrieren.

Der Film verbindet – indirekt oder eben direkt – Gesellschaften, Kulturen und Milieus. Er dient der gegenseitigen Verständigung. Und als kollektives Erlebnis ist er immer auch ein «politischer» Akt. Deshalb ist eine Filmförderung durch die öffentliche Hand unabdingbar.

Verteidigen, was die Schweiz verbindet

Gewiss – die «No Billag»-Initiative zielt natürlich nicht explizit auf den Schweizer Film. Aber dass es auch diesen in seiner Existenz träfe, ist doch bezeichnend für deren Geist, die in dem, was uns als Nation medial verbindet vor allem einen Frevel wider die Selbstbestimmung zu wittern scheint. Im Schweizer Film begegnen wir uns selber – und zwar nicht in einer karikaturalen Variante, als wandelnde Klischees oder als Werbeträger, sondern häufig authentisch und tiefenscharf.

Vor genau fünfzig Jahren erschien Guy Debords berühmtes Buch „La societé du spectacle“. Darin schreibt er: „Tout ce qui était directement vécu s’est éloigné dans une représentation.“ Vielleicht gilt heute das exakte Gegenteil: Alles, was nicht mehr direkt erlebt werden kann, kommt uns wieder näher durch die Repräsentation.


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