«Mon Vote, Ma Voix»: Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der Ausübung ihrer politischen Rechte unterstützen

Projektziel und Zielgrupe

Das Ziel des Forschungsprojekts «Mon Vote, Ma Voix» bestand darin, zu erkennen, was Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der Ausübung ihres Stimm- und Wahlrechts behindert bzw. unterstützt. Ausgewählt wurden die vier Kantone Freiburg, Genf, Neuenburg und Waadt aufgrund ihrer Breite und Repräsentanz der in der Westschweiz verfolgten Praktiken im Bereich der politischen Rechte für die betreffende Bevölkerung. Die Studie untersucht zudem die Faktoren, die das Durchlaufen von Verfahren zur Wiedererlangung der Bürgerrechte in den untersuchten Kantonen unterstützen bzw. behindern. Schliesslich war auch die Entwicklung eines Instruments zum Erkennen sozialer Repräsentation beim Stimm- und Wahlrecht von Menschen mit geistiger Behinderung eines der erklärten Ziele.

Wie hilft das Projekt?

Dieses Forschungsprojekt ergänzt die nationalen und internationalen Überlegungen zu bewährten Verfahren, die Menschen mit geistiger Behinderung bei der Ausübung ihrer politischen Rechte unterstützen. Die Ergebnisse ermöglichen ein besseres Verständnis der Strategien, die in der Westschweiz zur Gewährleistung der Bürgerrechte der betreffenden Bevölkerungsgruppe angewandt werden, und ihrer Konformität mit Artikel 29 BRK (UNO, 2006). Acht sozialpädagogische Einrichtungen und drei Berufsbildungszentren nahmen am Projekt teil, indem sie einen Online-Fragebogen beantworteten (N=300) und den Einbezug von 15 Fokusgruppen (N=58) und 5 Einzelinterviews mit Personen mit geistiger Behinderung ermöglichten. Die aufgeworfenen Themen betrafen die Erfahrungen der Menschen bei der Ausübung (oder Nichtausübung) ihres Stimm- und Wahlrechts; ihre Strategien, Informationen zu erfassen und sich eine politische Meinung zu bilden; Faktoren, die die Ausübung des Stimm- und Wahlrechts erleichtern oder behindern, und die Art der Lernprozesse, um sich diese Kompetenzen anzueignen.

Was hat dieses Projekt erreicht?

Unsere Erkenntnisse: 

  • Ob eine Person mit geistiger Behinderung abstimmen und wählen kann, hängt von der kantonalen Gesetzgebung ab, aber auch davon, wie die einzelnen Akteure, die für die Umsetzung des Gesetzes verantwortlich sind, die Gesetzgebung auslegen. 
  • Bisher gibt es kein geeignetes formalisiertes Verfahren zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit einer Person, und allein die Idee eines solchen Verfahrens wirft grundlegende ethische Fragen auf.
  • Der Zugang zum Stimm- und Wahlrecht korreliert negativ mit dem Vorhandensein einer Beistandschaft (in welcher Form auch immer) und der Tatsache, dass jemand in einem institutionellen Umfeld wohnt. 
  • Menschen mit geistiger Behinderung, die abstimmen und wählen gehen, üben dieses Recht unter ungünstigen Bedingungen aus, insbesondere was den Zugang zu politischen Informationen betrifft, die selten auf sie zugeschnitten sind. 

Beispiel Meinungsbildungsprozess

«Wie sieht Ihre Strategie aus, wenn Ihnen jemand sagt, dass Sie so oder so abstimmen sollen, Sie aber nicht einverstanden sind?»

P1: «Ich sage: STOPP.»

P2: «Ich antworte: «Jeder stimmt ab, wie er will.»»

P3: «Ich stimme immer so ab wie meine Familie.»

Die Ergebnisse zeigen, dass sich Menschen mit geistiger Behinderung, wie die Allgemeinbevölkerung auch, auf unterschiedliche Weise ihre Meinung zu einem Abstimmungsgegenstand oder einer Wahl bilden: Es gibt diejenigen, die erklären, dass sie sich an die Meinung ihrer Umgebung, meist ihrer Familie, orientieren und wie diese abstimmen, ohne das Thema mit anderen zu diskutieren. Es gibt diejenigen, die sich mit anderen Argumenten auseinandersetzen, um ihre Wahl treffen zu können, und auch diejenigen, die beschliessen, sich gegen die Entscheidungen ihrer Umgebung zu stellen. 
Entscheidungsautonomie zu erlangen ist ein entwicklungsbedingter Lernprozess. Jeder Mensch, ob mit oder ohne Beeinträchtigung, verwirklicht sich dank der im Umfeld gebotenen und geförderten Gelegenheiten zum Experimentieren und indem er Befähigung zur Selbstbestimmung entwickelt.

Die Teilnehmenden stellten insbesondere fest, dass die Informationen, die von den verschiedenen Akteuren im Vorfeld von Abstimmungen und Wahlen bereitgestellt werden, nicht leicht zugänglich sind. Die Informationen, die Zeitungen, Fernsehen, Parteien, soziale Netzwerke, Apps usw. vermitteln, sind derzeit nicht für eine Bevölkerung mit kognitiven Schwierigkeiten gedacht und nicht ausreichend auf deren Bedürfnisse zugeschnitten. 

Herausforderungen

Die grösste Herausforderung für die Schweiz besteht darin, das Stimm- und Wahlrecht anzupassen, um Menschen mit einer geistigen Behinderung stärker in das Leben als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einzubeziehen UND flankierende Massnahmen vorzusehen, die den politischen Sozialisationsprozess dieser Bevölkerungsgruppe unterstützen. Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, geeignetes Material anzubieten, das den Bedürfnissen dieser Bevölkerungsgruppe besser entspricht. Abstimmen und wählen zu dürfen, ohne an den Debatten teilnehmen zu können, die die Bildung einer politischen Meinung ermöglichen, und die kontradiktorischen Erklärungen in den offiziellen Abstimmungs- und Wahlunterlagen nicht verwerten zu können, weil diese nicht zugänglich sind, stellt eine grosse Hürde für die Ausübung des Stimm- und Wahlrechts dar. Die Voten zeigen, dass manche Menschen mit kognitiven Schwierigkeiten sich dadurch entmutigen lassen und die zur Verfügung stehenden Instrumente (offizielles Material, Internet, Zeitungen, TV-Sendungen usw.) gar nicht (oder nur unzureichend) nutzen, andere verzichten ganz auf die Ausübung ihres Stimm- und Wahlrechts.

Trägerschaft

Portrait von Barbara Fontana
Projektleiterin Barbara Fontana, Doktorin Sonderpädagogik, Universität Freiburg

Letzte Änderung 13.02.2024

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