«Wir müssen uns gegenseitig verstehen»
Rorschach (SG), 01.08.2025 — Rede von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider an der Bundesfeier am 31. Juli 2025 in Rorschach (SG). Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren
Genau vor einem Jahr reiste ich bereits einmal nach Rorschach. In der schwülen Sommerhitze. Unter schwarzen Wolken. Begleitet von Blitzen und Donnerschlägen. Kurz vor der Ausfahrt Meggenhus setzte der Regen ein. So heftig, dass man glaubte, Rorschach werde bald im See versinken. Viele von Ihnen, liebe Besucherinnen und Besucher, warteten damals vergeblich auf das Fest und auf mich. Oder Sie suchten Schutz im Zelt. Die Feuerwehr hat schliesslich das Veto eingelegt und die Bundesfeier abgebrochen. Ein Entscheid, der Mut erforderte, der aber richtig war. Das wissen alle, die damals auf der Wiese waren.
Statt auf die Festwiese fuhr ich ins Hafenbuffet, wo Stadtpräsident Robert Raths mich empfing und mit Frotteetüchern versorgte. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Stimmung im Hafenbuffet: Draussen der Sturm, drinnen eine andächtige Ruhe und Verbundenheit. Wir bildeten eine kleine, eidgenössische Schicksalsgemeinschaft zum 1. August. Wir leisteten sogar einen Schwur: den Hafenbuffet-Schwur. Nämlich, dass ich in einem Jahr nochmals zurückkehren würde. Nun habe ich das Vergnügen, dass ich mein Versprechen einlösen kann. Danke, Robert, für die Einladung! Und wie Sie alle wissen: Manchmal brauchen gute Sachen in der Schweiz mehrere Anläufe. Die AHV, das Frauenstimmrecht, die 1. August-Rede in Rorschach.
Auch die Schweiz ist eine Schicksalsgemeinschaft. Eine Nation, die sich zusammensetzt aus Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Geschichten. Alle sprechen von Vielfalt – ganz besonders am 1. August. Als Bundesrätin bin ich viel unterwegs und entdecke die Vielfalt der Schweiz praktisch täglich neu. Heute Abend spreche ich zu Ihnen, hier im wunderschönen Rorschach. Einem Ort, der so international ist wie Zürich und Genf, der aber in dieser Offenheit eine ganz eigene Identität bewahrt hat. Typisch schweizerisch. Morgen Vormittag besuche ich einen 1. August-Brunch in Delley, einem Dorf im Kanton Fribourg. Eine ebenso schöne, aber ganz andere, ländliche Welt. Und eine dritte 1. August-Rede halte ich morgen Abend im Tessin, in Tresa. Auch hier werde ich wieder einer anderen Kultur begegnen. Und Leute mit einer anderen Mentalität kennenlernen, die auch eine andere Perspektive auf die Schweiz haben. Kulturell betrachtet ist unser Land fast ein kleiner Kontinent und doch mitten in Europa.
Die Vielfalt der Schweiz äussert sich nicht nur in der Sprache und der Kultur. Sie prägt auch unsere Politik. Wir alle sind im dauernden Gespräch mit Leuten aus anderen Kantonen, anderen Landesteilen, anderen Weltregionen, anderen politischen Kreisen. Unsere Demokratie verlangt von uns, uns wirklich für die anderen zu interessieren – für ihre Meinung, ihre Perspektive, ihren Lebenslauf, ihre Gefühle. Sind wir also eine Willensnation? Das klingt wahnsinnig anstrengend. Ich würde vielmehr sagen: Wir sind eine Nation, die den Willen hat, über alles zu debattieren – und die dadurch immer wieder aufs Neue zusammenwächst. Doch dafür reicht der reine Wille allein nicht. Dafür braucht es auch die Freude am Miteinander.
Was ist das Geheimnis unserer politischen Kultur? Dass uns unsere Auseinandersetzungen nicht spalten. Im Gegenteil: Auseinandersetzungen bringen uns einander näher. Das ist, so glaube ich, die zentrale Aussage des Lieds «Yr Isebahn» von Mani Matter, mit seinem schweizweit berühmten Schlusssatz: «S’isch Rorschach». Sie erinnern sich: In Mani Matters Lied sitzen sich zwei Fahrgäste gegenüber, beide schauen aus dem Fenster. Der eine sieht schon im Voraus, was kommt. Der andere fährt rückwärts und sieht, wo der Zug schon vorbeigefahren ist. Ich zitiere: «Itz schtellet nech vor, Jede bhouptet eifach, So win ärs gseht sigs richtig Und scho heisi Krach, Si gäbe enander mit Schirme uf ds Dach»
Heute würde man sagen: Mani Matter warnt uns vor der Gefahr der Bubbles. Aber man kann das auch anders lesen. Viel positiver! Denn immerhin reden die Vorwärts- und die Rückwärtsfahrer miteinander. Sie könnten sich ja auch einfach feindselig anstarren. Oder sich ignorieren. Oder in ihre Handys glotzen. Oder sich auf social media beleidigen. Aber nein, sie sind nicht einverstanden mit ihrem Gegenüber und teilen sich das auch offen mit – gut so! Nicht so gut ist natürlich, dass sie sich «mit Schirmen aufs Dach» geben. Das sollte man – wann immer möglich - vermeiden. Das sage ich jetzt als Gesundheitsministerin.
Der 1. August ist eine Gelegenheit, kurz innezuhalten und uns zu fragen, was wirklich wichtig ist. Wir stimmen drei, vier Mal im Jahr ab. Und gestalten so unsere eigene Zukunft. Abstimmungen sind stets ein selbstbewusster Akt. Wir beschäftigen uns mit den unterschiedlichsten Themen. Wir lesen uns ein, wir prüfen Argumente, wir reden mit Leuten, zuhause oder am Arbeitsplatz. Wir sind skeptisch oder überzeugt. Und manchmal auch hin- und hergerissen. Kurz: Wir denken sehr häufig über die Grundlagen unseres Zusammenlebens nach. Und versuchen, die Folgen von politischen Entscheidungen auf unseren Alltag abzuschätzen. Vielleicht spüren wir deshalb in der Schweiz das Malaise weniger stark, das derzeit viele Länder umtreibt: Polarisierung, verhärtete Positionen und gegenseitige Abgrenzung. Ein verbreitetes Gefühl der Ohnmacht. Und immer mehr Wut und Frustration.
Die Suche nach dem Gemeinsamen hat eine wichtige Voraussetzung: Wir müssen uns gegenseitig verstehen. Sie haben es sicher gelesen: In zahlreichen Deutschschweizer Kantonen gibt es parlamentarische Vorstösse, die das Frühfranzösisch aus dem Primarunterricht streichen und auf die Oberstufe verschieben wollen. Der Bundesrat beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. Warum? Diese Verschiebung würde bedeuten, dass der Sprachenkompromiss der Kantone von 2004 und 2014 aufgekündigt würde – und das würde mehr Probleme schaffen als lösen. Ich war damals an diesem gut eidgenössischen Kompromiss beteiligt, als Erziehungsdirektorin des Kantons Jura. Es wurde gerungen, es wurde hart diskutiert, niemand war restlos glücklich, aber trotzdem hat man sich am Schluss zusammengerauft – und zwar, ohne sich zu raufen. Oder mit Schirmen aufs Dach zu geben…
Im Ernst, meine Damen und Herren, natürlich reden nicht alle Deutschschweizer Schülerinnen und Schüler fliessend Französisch nach der Primarschule. Aber es geht hier nicht einfach um eine Fremdsprache – es geht um eine Landessprache. Es geht um Französisch und nicht, wie man in der Deutschschweiz gerne sagt, um Frühfranzösisch. Die Kinder in der Suisse Romande lernen auch kein Frühdeutsch. Sondern einfach Deutsch.
Wir müssen uns bewusst sein, dass unser Land langfristig nur funktionieren kann, wenn wir fähig und willens sind, uns für die anderen Sprachregionen zu interessieren. Die Sprache ist dafür ein entscheidendes Werkzeug – als Ausdruck unserer kollektiven und individuellen Identität und unserer kulturellen Referenzen und Werte. In der Westschweiz, meine Damen und Herren, gibt es keine Diskussion über Deutsch in der Primarschule. Es ist eine Selbstverständlichkeit. Das sollte uns zu denken geben.
Unsere Mehrsprachigkeit, unsere kulturelle Vielfalt – das sind grosse Stärken unseres Landes. Aber nur, wenn wir sie pflegen, nur, wenn sie einer gelebten Realität entsprechen und nicht einfach am 1. August gepredigt werden. Unsere kulturelle und sprachliche Vielfalt macht uns auch zu einem sehr europäischen Land. Wir sind als einziges Land mit drei wichtigen Kulturräumen in Kontinentaleuropa aufs Engste verbunden. Auch unseren wirtschaftlichen Erfolg, zu dem unsere Forschung und die Hochschulen einen wichtigen Beitrag leisten, verdanken wir zu einem grossen Teil unserer konstruktiven Beziehung zu Europa. Und dies schon seit Jahrhunderten. Die enge wirtschaftliche Verflechtung mit unseren Nachbarn war schon lange vor der EU eine der Bedingungen für unseren Wohlstand. Und sie ist es selbstverständlich auch heute noch. Deshalb will der Bundesrat die Beziehungen zur EU stabilisieren und zukunftsfähig machen.
Diese massgeschneiderte Beteiligung am EU-Binnenmarkt, dem grössten Binnenmarkt der Welt, ist gerade heute besonders wertvoll. Denn wir alle lesen und sehen täglich, wie stark die Welt und die Weltwirtschaft im Umbruch sind. Und wir alle denken auch an diesem festlichen und feierlichen Anlass an die Tragödien, die sich derzeit ereignen. In der Ukraine, in Gaza, in Darfur und anderswo auf der Welt. Wenn das internationale System instabiler wird, werden geregelte Beziehungen zu Europa, das unsere Werte teilt, noch wichtiger.
Die Debatte über unser Verhältnis zu Europa wird bekanntlich seit langem mit viel Engagement geführt. Gut so! Wir streiten leidenschaftlich, weil es auch wirklich um Wichtiges geht. Und das gilt auch für andere Themen. Allein im letzten Jahr habe ich als Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern sieben intensive Abstimmungskämpfe miterlebt – und ich war beeindruckt. Ich habe nichts gemerkt von Gleichgültigkeit, von Resignation oder Opportunismus. Im Gegenteil: Ich habe die Schweiz erlebt als ein Land, in dem mit Herzblut und Freude debattiert wird. In dem die Leute ein echtes Interesse an den Argumenten haben. Und manchmal sogar ihre Meinung ändern, wenn sie zum Schluss kommen, dass ihre ursprünglichen Annahmen vielleicht doch nicht zutreffen. Anders formuliert: Was unsere politische Kultur bedrohen würde, wäre Gleichgültigkeit. Wir debattieren – manchmal heftig – und finden danach wieder zusammen und akzeptieren die Entscheide, die unsere direkte Demokratie hervorbringt. Wir sind vielfältig und trotzdem – oder gerade deswegen – ein Land der Kompromisse.
Wie heisst es doch in Mani Matters Lied: «Dr Zug fahrt». Ja, der Zug fährt. Er bleibt nicht stehen. Er entgleist nicht. Der Schweizer Zug fährt. Zugegeben: Nicht wahnsinnig schnell. Ab und zu holpert es ein bisschen. Aber er fährt. Und das ist schon ziemlich viel.