«Wir kämpfen gegen unnötige Kosten»
Steigende Prämien belasteten die Haushalte direkt, sagt Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider. Im Interview zeigt sie auf, wie unnötige Gesundheitskosten gesenkt werden sollen, und erklärt, warum das System in der Bevölkerung dennoch eine hohe Zufriedenheit geniesst.
08. September 2025 | Die Volkswirtschaft
Interview: Guido Barsuglia
Frau Bundesrätin, Sie sind dieses Jahr am Frauenlauf in Bern mitgelaufen. Ist das Ihr politisches Zeichen für einen gesunden Lebensstil?
An diesem Lauf nehmen jeweils mehrere Tausend Frauen und Mädchen aller Altersgruppen teil. Der Lauf ist etwas Besonderes, weil man einfach aus Freude mitmachen kann, ohne Wettkampfgedanken. In diesem Jahr habe ich die Gelegenheit zum Austausch besonders geschätzt. Ich habe die Strecke gemeinsam mit mehreren Dutzend Mitarbeiterinnen aus meinem Departement zurückgelegt.
Sie waren Sozialarbeiterin, später Rektorin einer Fachhochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit. Ein typischer Lebenslauf für eine Gesundheitsministerin?
Eine typische Karriere, die auf das Mandat einer Bundesrätin vorbereitet, gibt es nicht. Im Departement des Innern finde ich viele Themen wieder, die mich während meiner gesamten beruflichen und politischen Laufbahn bewegt haben – unter anderem in meinen 13 Jahren als Regierungsrätin des Kantons Jura. Gesundheit, Sozialversicherungen und Kultur sind gesellschaftliche Themen, bei denen ich meine Erfahrung wie auch meine Leidenschaft einbringen kann.
Wie jedes Jahr im Spätsommer dreht sich alles um die Krankenkassenprämien. Warum steigen die Gesundheitsausgaben jedes Jahr?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Wir können uns über die steigende Lebenserwartung freuen. Und über vielversprechende neue Behandlungsmethoden und Medikamente. Doch diese neuen Möglichkeiten haben ihren Preis, manchmal einen sehr hohen. Wir müssen die steigenden Gesundheitskosten in den Griff bekommen. Die Patientensicherheit steht dabei an erster Stelle. Gleichzeitig müssen wir unnötige Leistungen vermeiden.
Gesundheit sei das höchste Gut, sagen wir. Warum empören wir uns dann, dass sich die Prämien über die letzten 20 Jahre verdoppelt haben?
Weil die Gesundheitskosten hauptsächlich über die Krankenkassenprämien finanziert werden. Die Bevölkerung spürt die höheren Kosten sofort, sie belasten das monatliche Budget stark. Deshalb erachte ich Massnahmen, die den Kostenanstieg bremsen, als eine permanente und zentrale Aufgabe.
Die Schweiz gibt jährlich 10’500 Franken pro Kopf für Gesundheit respektive Krankheit aus. Wie schneiden wir damit international ab?
Die Schweiz hat ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem und liegt damit auf Platz sieben bei den Pro-Kopf-Ausgaben in den 38 OECD-Ländern. Diese Ausgaben sind in den USA deutlich höher, aber auch, in einem weniger starken Ausmass, in Deutschland, Frankreich und Österreich. Unsere Kosten sind mit denen unserer Nachbarländer vergleichbar. Anders ist aber vor allem die Art der Finanzierung. In vielen Ländern ist sie einkommensabhängig. Bei den Versicherungsprämien in der Schweiz ist das nicht der Fall.
Im Ausland werden die Gesundheitskosten oft über Steuern finanziert. In der Schweiz spüren Patientinnen und Patienten über Krankenkassenprämie, Franchise und Selbstbehalt monatlich, dass Gesundheit kostet. Führt unser System darum zu mehr politischem Unmut?
Das stimmt. Der von den Versicherten direkt finanzierte Anteil ist in der Schweiz höher als in anderen Ländern. Das ändert jedoch nichts an unserer politischen Verantwortung. Die finanzielle Belastung für Menschen mit geringem und zum Teil auch noch mit mittlerem Einkommen ist so gross, dass staatliche Eingriffe notwendig sind. Das System der Prämienverbilligung sorgt für eine gewisse Entlastung. Man muss auch betonen, dass in der Schweiz alle – unabhängig von ihrem Einkommen – Zugang zu einer Medizin auf sehr hohem Niveau haben.
Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung erhält eine Prämienverbilligung. Und dennoch verzichten gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium Obsan besonders ärmere Menschen auf Behandlungen und sterben im Schnitt früher. Wie ist es um die Chancengleichheit in der Schweiz bestellt?
Armut ist ein grosser Risikofaktor für die Gesundheit. Rufen wir uns das Solidaritätsprinzip unserer Krankenversicherung in Erinnerung: Es garantiert allen den Zugang zum Gesundheitssystem. Das System ist aber sicher nicht perfekt. Wir müssen sicherstellen, dass die Franchisen und Selbstbehalte nicht zu stark steigen. Es ist inakzeptabel, dass Menschen aus finanziellen Gründen auf eine Behandlung verzichten. Die Armutsbekämpfung ist im Departement eine meiner Prioritäten. Besonders engagieren müssen wir uns für Renten und Ergänzungsleistungen, die ein würdiges Leben ermöglichen, unter anderem durch den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aber Gesundheit und Lebenserwartung werden auch von anderen Faktoren beeinflusst, bei denen Handlungsbedarf besteht: Zugang zu Bildung, den Arbeitsbedingungen, dem Umfeld, in dem wir leben, oder der Qualität der Informationen.
Was bekommt die Bevölkerung für die hohen Gesundheitsausgaben?
Wir können uns auf hervorragende medizinische Leistungen verlassen. In mehreren OECD-Studien hat die Schweizer Bevölkerung unserem Gesundheitssystem Bestnoten gegeben. Ich schätze das sehr. Eine grosse Mehrheit ist mit der Qualität und dem Zugang zur Gesundheitsversorgung zufrieden.
Der Bundesrat hat bereits das zweite Kostendämpfungspaket verabschiedet. Doch die Ausgaben steigen weiter. Welche Massnahmen wirken?
Die Gesundheitskosten werden nicht sinken, aus den genannten Gründen. Wir kämpfen gegen unnötige Kosten wie Doppelspurigkeiten, Fehlanreize oder Ineffizienz. Ich habe einen runden Tisch ins Leben gerufen, um die Hauptakteure im Gesundheitswesen in die Sparbemühungen einzubeziehen. Der runde Tisch will ab 2026 Einsparungen von 300 Millionen Franken pro Jahr erzielen.
Die Schweiz hat mehr als 270 Spitäler. Die Spitalplanung ist kantonal geregelt. Eine interkantonale Koordination gibt es kaum. Die Folge sind teure Überkapazitäten. Zudem kann die Behandlungsqualität leiden, wenn spezialisierte Eingriffe in einem Spital nur selten gemacht werden. Kann der Bundesrat hier gar nichts tun?
Die Aufgabenteilung ist in unserem föderalistischen System klar geregelt. Die Kantone sind für das medizinische Angebot auf ihrem Gebiet verantwortlich und damit auch für die Spitalplanung. Die Aufgabe ist nicht einfach, da die Schliessung eines Spitals ein hoch emotionales Thema ist. Aber auch der Bund spielt eine gewisse Rolle. Er hat die Eckwerte für die Spitalplanung festgelegt. Dazu gehören eine Mindestfallzahl pro Spital und die interkantonale Zusammenarbeit. Ich ermutige die Kantone nachdrücklich, für eine agile Spitalplanung weiterhin über regionale oder kantonale Grenzen hinwegzublicken.
Im Herbst 2024 hat das Stimmvolk Efas – die einheitliche Finanzierung der ambulanten und stationären Leistungen – angenommen. Was bringt die Reform?
Wir vereinheitlichen damit die Finanzierung der medizinischen Leistungen und vereinfachen das System. Ambulante Behandlungen werden gefördert, indem negative Anreize wegfallen. Künftig können Ärztinnen und Ärzte aufgrund medizinischer Kriterien entscheiden, ob ein Patient besser ambulant behandelt oder für eine stationäre Behandlung hospitalisiert wird. Das soll die Gesundheitskosten ebenfalls eindämmen.
Ab nächstem Jahr löst Tardoc das bisherige Tarifsystem Tarmed ab. Was wird sich für Versicherte und Ärzteschaft konkret ändern?
Ich glaube nicht, dass die Versicherten einen grossen Unterschied bemerken werden. Die Umstellung vom heutigen System auf Tardoc und Pauschalen muss im Hinblick auf die Gesamtkosten neutral sein. Für die Leistungserbringer wie Arztpraxen und Spitäler ist dieses neue Tarifsystem ein wichtiger Meilenstein. Es wird ausserdem von Jahr zu Jahr weiterentwickelt. Tardoc ersetzt den Tarmed, der völlig veraltet ist. Die Einführung von Pauschalen ist ein Novum im ambulanten Bereich. Ziel ist es, die erbrachten Leistungen genauer abzubilden. Wir korrigieren damit Verzerrungen und Ungleichbehandlungen, die sich im bisherigen System etabliert haben.
Ärztinnen und Ärzte klagen, sie verbrächten mehr Zeit mit Formularen als mit dem Behandeln von Krankheiten. Stimmt das?
Die administrative Belastung im Gesundheitsbereich muss man ernst nehmen. Ich habe das Bundesamt für Gesundheit beauftragt, Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten. Das laufende Projekt beinhaltet für diesen Herbst eine grosse Umfrage bei der Ärzteschaft. Wir wollen abklären, wo die Ursachen für den hohen administrativen Aufwand liegen. Dazu gibt es bislang keine verlässlichen Daten. Auf dieser Grundlage wird das Bundesamt für Gesundheit Entlastungsmassnahmen vorschlagen, die sicherlich verschiedene Akteure betreffen werden.
2025 haben 12 Prozent der Versicherten ihre Krankenkasse gewechselt. Die Werbeausgaben, die zum Wechsel animieren sollen, belaufen sich auf rund 200 Millionen Franken. Würde eine Einheitskasse beim Sparen helfen?
Bevölkerung und Parlament haben die Einführung einer Einheitskrankenkasse mehrfach abgelehnt. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Wettbewerb zwischen den Versicherern sie dazu anhält, die Kosten im Griff zu behalten, und dass es sinnvoll ist, wenn die Versicherten eine Wahl haben.
Seniorinnen und Senioren verursachen fast ein Viertel der Gesundheitskosten – doch sie zahlen den gleichen Beitrag wie 30-Jährige. Braucht es eine eigene Prämienkategorie ab 65?
Unsere Grundversicherung beruht auf dem Solidaritätsprinzip. Dank des von Bundesrätin Ruth Dreifuss in den 1990er-Jahren eingeführten Systems unterscheiden sich die Versicherungsprämien nicht mehr nach guten und schlechten Risiken. Alle zahlen gleich viel, Männer und Frauen, Junge und Ältere, Kranke und Gesunde. Das ist ein grosser Erfolg. In einer alternden Gesellschaft ist es natürlich wichtig, darüber nachzudenken, wie wir das Gesundheitssystem langfristig finanzieren können. Diese Frage ist legitim, aber extrem komplex.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten das Schweizer Gesundheitswesen von Grund auf neu bauen. Was würden Sie anders machen?
Mein Interesse und meine Priorität gehören der Gegenwart und der Zukunft. Entscheidend ist, dass wir das Vertrauen in unsere Fähigkeit bewahren, das Gesundheitssystem weiterzuentwickeln: Qualität, Sicherheit und Zugang müssen dabei im Zentrum stehen – und ebenso angemessene Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal.
Efas ist durch. Was ist der nächste grosse Reformschritt?
Wir konzentrieren uns derzeit auf die Umsetzung der wichtigen Reformen, die in den letzten Jahren verabschiedet wurden, etwa auf das Inkrafttreten des neuen ambulanten Tarifsystems ab Januar 2026. Ausserdem möchten wir die Grundversorgung verbessern und die Digitalisierung vorantreiben. Mit dem Programm Digisanté wollen wir insbesondere sicherstellen, dass die verschiedenen digitalen Systeme der Akteure im Gesundheitswesen miteinander kommunizieren können. So wird der Datenaustausch einfacher und effizienter.