Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.04.2018
Frankfurter Allgemeine Zeitung: Herr Bundespräsident, an diesem Mittwoch kommt Bundespräsident Frank- Walter Steinmeier zum Staatsbesuch in die Schweiz. Werden Sie mit ihm auch über den Spion sprechen, den Ihr Nachrichtendienst auf deutsche Steuerfahnder angesetzt hatte und der deshalb jüngst in Frankfurt verurteilt wurde?
Alain Berset: Diese Geschichte ist politisch und juristisch abgeschlossen. Dazu gibt es nichts mehr zu diskutieren.
Schicken Sie heute immer noch Geheimagenten nach Deutschland?
Davon gehe ich nicht aus, nein.
Während des Streits um deutsche Steuersünder in der Schweiz war das Verhältnis zu Deutschland sehr angespannt. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück drohte gar mit der Kavallerie. Wie sehen Sie das Verhältnis heute?
An die Kavallerie kann ich mich gut erinnern. Aber trotz dieser Provokation haben wir ja eine gute Lösung gefunden. Die Schweiz nimmt ebenso wie Deutschland an dem automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten teil, zu dem sich mehr als 100 Länder verpflichtet haben. Unser Verhältnis zu Deutschland ist sehr gut, nicht nur politisch. Mit einem jährlichen Handelsvolumen von 100 Milliarden Franken ist Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz.
Und wo hakt es noch zwischen den beiden Ländern?
Handlungsbedarf gibt es zum Beispiel auf dem Feld der Bahninfrastruktur. Die Schweiz hat mehr als zwölf Milliarden Franken in den Bau des Gotthardtunnels investiert. Deutschland hat sich verpflichtet, die Zulaufstrecken auszubauen, was im deutschen Rheintal entsprechender Investitionen bedarf. Auch der Konflikt um den Fluglärm rund um den Flughafen Zürich ist leider immer noch nicht bereinigt. Der Staatsvertrag liegt in Deutschland auf Eis.
Rechtspopulisten in aller Welt und auch die AfD sehen die Schweiz als Vorbild. Ärgert Sie als Sozialdemokrat das?
Wenn ich lese, was im Ausland über die direkte Demokratie gesagt wird, muss ich feststellen: Viele haben unser politisches System nicht gänzlich verstanden.
Inwiefern?
Die direkte Demokratie ist kein Exportprodukt, das sich einfach überall installieren lässt. Sie hat sich bei uns über fast zwei Jahrhunderte stetig entwickelt und erfordert eine entsprechende politische Kultur. Die direkte Demokratie ersetzt bei uns nicht die Rechte des Parlaments. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der immer wieder übersehen wird. Wir haben eine Mischung direktdemokratischer und repräsentativer Elemente, die sehr fein ausbalanciert sind. Über Volksinitiativen können die Bürger ein Thema lancieren, das ihnen unter den Nägeln brennt. Und dann schaut das Parlament mit seinen zwei Kammern, was man daraus unter Berücksichtigung der geltenden Verfassung und des Völkerrechts machen kann. Das Volk hat am Ende das letzte Wort. Aber es nimmt dem Parlament nicht die Macht weg. Daher, um präziser zu sein: Wir haben eine halb direkte Demokratie.
Volksinitiativen wie die gegen Masseneinwanderung" oder jene, die Schweizer Recht über Völkerrecht stellen will, sorgen immer wieder für Unruhe und stiften Rechtsunsicherheit. Sollte man nicht die Hürden erhöhen? Es braucht ja nur 100000 Unterschriften, um eine Initiative zu starten.
Diese Debatte haben wir bei der Revision der Verfassung geführt. Es ist gut, dass die Instrumente der direkten Demokratie nicht allzu schwer zu ergreifen sind.
Warum geben Sie nicht die Volksinitiative zurück in die Hand des Volkes und schließen die Parteien, die dieses Instrument ja zunehmend für eigene politische Zwecke missbrauchen, vom Initiativ-: recht aus?
Ja, in der Tat, ab und zu wird die direkte Demokratie zu parteipolitischen Zwecken genutzt. Aber wir haben gelernt, damit umzugehen. Die Stimmbürger merken es, wenn eine Partei sie vor den eigenen Karren spannen will. Derlei Initiativen werden in der Regel abgelehnt.
Zuletzt sind große und wichtige Reformen wie jene zur Altersvorsorge und zu den Unternehmensteuern vom Volk abgelehnt worden. Ist die Schweiz dank" der direkten Demokratie reformunfähig?
Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Die Entwicklung der Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte. Das beweist, dass wir nicht alles falsch gemacht haben. Es gab auch in der Vergangenheit immer wieder große Projekte, die abgelehnt wurden. Wir brauchten zum Beispiel mehrere Abstimmungen, um überhaupt eine staatliche Altersvorsorge zu schaffen. Es brauchte 50 Jahre, um den Mutterschaftsurlaub einzuführen. Ja, es kann lange dauern bei uns. Aber wenn es geschafft ist, ist es sehr stabil. Die Schweiz ist meines Wissens das einzige Land, in dem die Bevölkerung über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters entscheiden kann.
Aber das kann dazu führen, dass nicht die beste Lösung gewinnt, sondern der faule Kompromiss, der jedem ein Zückerli verspricht, oder?
Was ist die beste Lösung? Wird eine Regierung, die, weil sie für fünf oder zehn Jahre ganz allein an der Macht ist, entscheiden kann, wie eine Rentenreform auszusehen hat, unbedingt immer die beste aller möglichen Lösungen für die Bevölkerung wählen? Und wer kann schon von sich behaupten, zu wissen, was die beste Lösung ist?
Könnte die Schweiz irgendwann einmal Mitglied der EU werden?
Ein Beitritt zur EU ist heute kein Thema. Wir sind sehr gut in den europäischen Binnenmarkt integriert - dank der mehr als 120 bilateralen Verträge, die wir mit Brüssel abgeschlossen haben.
Die Schweiz profitiert in der Tat enorm von der engen Anbindung an die EU. Warum tun sich viele Schweizer trotzdem so schwer mit Europa?
Diese Ansicht teile ich nicht. Die Schweizer haben mehrfach über die bilateralen Verträge mit der EU abgestimmt - es gab immer ein Ja. Sie werden kein anderes Land in Europa finden, das so oft mit positivem Ergebnis über die Beziehungen zur EU abgestimmt hat. In diesem Sinne ist die Schweiz eher ein Vorbild für Europa.
In den Verträgen mit der EU fehlt ein wirksames Instrument zur Streitbeilegung. Dieses Manko will die EU-Kommission durch den Abschluss eines Rahmenabkommens beheben. Wie stehen Sie dazu?
Ein Rahmenvertrag würde uns helfen, die Beziehungen zur EU auf eine stabilere Grundlage zu stellen und Rechtssicherheit zu schaffen. Daher schätzen wir es, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jüngst die interessante Idee aufgebracht hat, im Streitfall auch ein Schiedsgericht einzubeziehen. Darüber diskutieren wir jetzt mit der EU vertieft.
Eidgenössische Politiker und Kommentatoren fordern immer wieder, die Schweiz müsse auf Augenhöhe mit Brüssel verhandeln. Ist das nicht reichlich naiv? Die Schweiz hat acht Millionen Einwohner, die EU 500 Millionen.
Nein, das ist nicht naiv. Es geht ja nicht nur um die Interessen der Schweiz. Umgekehrt profitiert die EU auch von uns. Wir sind der zweitwichtigste Investor in der EU, und hinsichtlich Warenhandel liegen wir hinter den Vereinigten Staaten und China auf Platz drei. In der Schweiz leben 1,4 Millionen Ausländer aus der EU, darunter mehr als 300000 Deutsche.
Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) hat eine Initiative zur Kündigung des Freizügigkeitsabkommens mit der EU lanciert. Was würde es für die Schweiz bedeuten, wenn es dafür eine Mehrheit gibt?
Ein Ja würde das Aus bedeuten für einen wichtigen Teil der bilateralen Verträge mit der EU und unser Verhältnis mit der EU destabilisieren. Kommt die Initiative zustande, so führen wir diese Debatte.
Die Ausländeranteil in der Schweiz beträgt 25 Prozent. Ist damit eine Grenze erreicht?
Das Wichtigste ist die Integration. Wenn es ein gemeinsames Verständnis dafür gibt, was wir als Gesellschaft sind und wie wir zusammenleben wollen, ist die Herkunft egal. Schauen Sie nach Genf. Dort liegt der Ausländeranteil seit dem 15. Jahrhundert oberhalb von 30 Prozent. Das spiegelt die Tradition der Schweiz als offenes Land.
Etliche in der Schweiz lebende Deutsche klagen darüber, dass sie nur schwer Anschluss finden zu Schweizern. Liegt das an den Deutschen oder an den Schweizern?
Als Schweizer aus dem französischsprachigen Teil kann ich das schwer beurteilen. Aber als ich vor vielen Jahren ins Parlament einzog, habe ich sofort gemerkt, dass die Beziehungen zwischen Deutsch- Schweizern und Deutschen nicht immer so einfach sind. Im Vergleich dazu ist das Verhältnis der Romands zu Frankreich total entspannt.