Badische Zeitung – 25.04.2018
Badische Zeitung: Herr Bundespräsident, welche Schulnote würden Sie den Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz geben?
Alain Berset: Eindeutig eine Sechs. Nach Schweizer Notensystem wohlgemerkt. Also die beste Note.
Und wie viel davon ist Wohlwollen vor dem Staatsbesuch von Bundespräsident Steinmeier?
Gar nichts. Ich gehöre seit sechs Jahren dem Bundesrat, der Regierung, an, war zuvor im Parlament. Ich überblicke also eine gewisse Dauer zu unseren Beziehungen von ganz nah oder recht nah.
Vor wenigen Jahren gab es Berichte über den starken Zuzug von Deutschen und darüber, dass dies auch zu Unmut führte, zum Beispiel weil in Krankenhäusern vor allem deutsche Ärzte und Pflegekräfte tätig waren. Manche Deutschen fühlten sich nicht willkommen. Haben sich die Verhältnisse wieder normalisiert?
Ich sehe das entspannt. Jeder kann sich aussuchen, wo er leben und arbeiten will. Wir haben die Personenfreizügigkeit in Europa. Und es gibt bei solchen Stimmungen normale Wechsel in diese oder jene Richtung. Wir sind dankbar, wenn Ärzte und Pflegekräfte aus Deutschland zu uns kommen. Denn wir sind derzeit nicht in der Lage, in der Schweiz genügend Ärzte auszubilden, das ist so. Das ist nicht gut, wir wollen das ändern und mehr ausbilden.
War es Zufall, dass diese Stimmen ausgerechnet im Vorfeld der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative so hörbar waren?
Die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative ist ein Paradebeispiel für das, was direkte Demokratie bedeutet. Ein Teil der Bevölkerung setzt mit einer Volksinitiative ein Thema auf die politische Agenda, das wird diskutiert – manchmal auch heftig. Es findet eine breite Diskussion statt über die Gesellschaft, wie wir sie organisieren, über Wachstum, was das für den Wohnungsmarkt bedeutet und vieles mehr. Das war eine engagierte Debatte, am Ende stand die Annahme der Initiative, die Situation war kompliziert. Wir haben einen Weg gefunden, die Initiative umzusetzen.
Betreffen solche atmosphärischen Schwankungen, die bisweilen auftreten, eigentlich eher das Verhältnis zwischen Deutschen und Deutschschweizern?
Das kann sein. Als Romand sehe ich das wohl etwas distanzierter. Die Beziehungen zu Deutschland sind nicht nur sehr wichtig, sie sind auch wirklich sehr gut. Das hat viel mit der Kultur, der Sprache, den gemeinsamen Werten zu tun.
Wie wichtig ist diese enge Beziehung mit Blick auf das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union, das ja etwas kompliziert ist?
Es ist immer wichtig, Freunde zu haben. Die Schweiz hat nicht nur geografisch eine zentrale Position in Europa.Wir sind auch kulturell, wissenschaftlich, wirtschaftlich und bei der Infrastruktur integriert und das, obwohl wir kein EU-Mitglied sind.Wir haben 120 bilaterale Verträgemit der EU, sind also stark eingebunden. Aber es braucht Partner, die einen gut kennen, die uns verstehen. Da hilft uns Deutschland, und das schätzenwir.
Wo es um direkte Nachbarschaft geht, gibt es auch Reibungsflächen. Ein Dauerbrenner ist der Streit um den Fluglärm von Zürich. Wann wird das Problem endlich aus der Welt sein?
Es gibt aus meiner Sicht zwei Punkte: Die Sicherheit muss oberste Priorität haben. Da darf es keine Abstriche geben. Der zweite Punkt ist eine langfristige Lösung für den Fluglärm. Und da gab es Verhandlungen, es gibt einen Staatsvertrag, der wurde von beiden Ländern unterschrieben und in der Schweiz auch ratifiziert, Deutschland ist noch nicht soweit.
Ein anderer Vertrag, der unterzeichnet wurde, ist der von Lugano.Die Schweiz hat den Gotthard-Tunnel gebaut, Deutschland sollte die Bahnlinie im Rheintal als Zulauf ausbauen. Davon sind wir weit entfernt. Wie groß ist der Ärger in der Schweiz?
Ach, wir sind nicht verärgert. Der Gotthard-Tunnel stärkt unsere Verlagerungspolitik von der Straße auf die Schiene, dient aber auch Europa. Es wäre daher gut, wenn es auch in Deutschland vorwärtsginge, das dient schließlich auch den Interessen Deutschlands. Von daher erwarte ich, dass das, was vereinbart wurde, umgesetzt wird.
Hat aus Ihrer Sicht die Suche nach einem Endlager für den Atommüll das Potenzial, die Beziehungen zwischen beiden Ländern zu belasten?
Das glaube ich nicht. Wir nutzen die Atomkraft in der Schweiz. Genau wie Deutschland auch, wir steigen aber schrittweise aus der Atomkraft aus. Wir müssen nun beide Wege finden, um Standorte zur Entsorgung des Atommülls zu finden. Und auch hier muss ganz oben die Frage der Sicherheit stehen. Die Schweiz setzt auf die Mitwirkung der Bevölkerung. Wir haben ein weitgehendes Angebot gemacht bei der Zusammenarbeit, Vertreter aus Deutschland werden im Planungsprozess einbezogen, sie können sich äußern und ihre Vorschläge einbringen.
Zum Programm des Staatsbesuches von Bundespräsident Steinmeier gehört eine Diskussion an der Universität Fribourg mit Studenten zur Frage, ob die Demokratie noch für das 21. Jahrhundert taugt. Heißt das, dass Sie die Demokratie in Gefahr sehen?
Das klingt mir zu alarmistisch. Tatsache ist jedoch, dass es Herausforderungen gibt, auch in Europa. Für uns in der Schweiz ist die halbdirekte Demokratie das beste System, um unterschiedliche Meinungen und Interessen auszugleichen. Um unser Land und die Gesellschaft voranzubringen. Aber wir müssen die Demokratie pflegen wie jede Errungenschaft. Uns vergewissern, was wir an ihr haben. Es gibt in gewissen Ländern Entwicklungen hin zu autoritären Regierungen. Dazu kommen bedenkliche Entwicklungen, wie man mit Informationen umgeht. Ehrliche, faktenbasierte Informationen sind wichtig für das Funktionieren einer Demokratie. Die genannten Fehlentwicklungen sehen wir seit einigen Jahren. Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit, das Funktionieren einer Demokratie, das sind Themen, die uns in der Schweiz und Deutschland umtreiben, besonders auch mich und Ihren Bundespräsidenten. Daher wollten wir das Thema diskutieren. Demokratie wird uns nicht geschenkt und ist dann für immer da.