NZZ – 14.05.2018
NZZ: Im letzten Jahr kamen weniger Zuwanderer in die Schweiz. Was heisst das für die AHV?
Alain Berset: Kurzfristig bedeutet das für die AHV wenig. Setzt sich diese Entwicklung aber während der nächsten fünf oder zehn Jahre fort, wären die Auswirkungen deutlich. Wenn weniger Zuwanderer in Schweiz kommen, bezahlen weniger Leute Beiträge, was zu einer grösseren Finanzierungslücke führt. Das gilt für alle umlagefinanzierten Sozialversicherungen.
Die sinkende Zuwanderung setzt der AHV schon jetzt zu. Die Einnahmen und das Umlageergebnis fielen 2017 viel schlechter aus als geplant.
Ja. Das Umlageergebnis der AHV war 2017 mit mehr als einer Milliarde Franken stark negativ. Das ist um 360 Millionen Franken schlechter, als wir erwarteten. Das zeigt, wie dringlich die Sanierung der AHV bleibt.
Braucht es jetzt rascher eine Reform?
Nein. Eine Reform der AHV ist ohnehin rasch nötig. Ziel muss eine gute und mehrheitsfähige Vorlage sein. Schneller, als dies jetzt aufgegleist ist, geht es in unserem politischen System kaum.
Sie planen für die AHV eine happige Mehrwertsteuererhöhung um bis zu 2 Prozent. Die politischen Reaktionen waren vernichtend.
Wir müssen unangenehme Tatsachen akzeptieren. Wenn wir das Rentenniveau halten und die AHV stabilisieren wollen, brauchen wir dringend eine namhafte Zusatzfinanzierung. Die Frage ist nur, wie diese erfolgt. Wenn in den nächsten zwölf Jahren nichts geschieht, kumuliert sich das negative Umlageergebnis bis 2033 auf 72 Milliarden. Wir benötigen bis zu diesem Zeitpunkt sogar Mehreinnahmen von 84 Milliarden, wenn der AHV-Ausgleichsfonds weiterhin mindestens 100 Prozent der Jahresausgaben decken soll, wie es das Gesetz verlangt.
Je länger der Zeithorizont, desto teurer wird eine Reform. Warum streben Sie nicht eine schlanke Vorlage an, welche die AHV bis gegen 2028 sichert?
Bei der gescheiterten Rentenreform haben die Abstimmungssieger kritisiert, dass diese die Finanzen der AHV nur bis 2030 ins Lot gebracht hätte. Es wäre also unehrlich, nun eine Reform mit einem kürzeren Zeithorizont zu bringen.
Mit Verlaub: Die bürgerlichen Gegner haben nicht den Zeithorizont an sich kritisiert, sondern dass die Reform die AHV trotz massiven Mehreinnahmen nur bis 2030 gesichert hätte.
Es bringt nichts, jetzt nochmals die Debatte über die letzte Reform zu führen. Aber die Probleme der Altersvorsorge sind mit der Abstimmung vom September 2017 nicht vom Tisch. Heute haben wir 2,6 Millionen Rentner, im Jahr 2033 werden es bereits 3,9 Millionen sein. Deren Zahl steigt also um 50 Prozent. Mit den Babyboomern gehen bis 2033 geburtenstarke Jahrgänge in Pension. Das bedeutet einen namhaften Finanzbedarf. Wir haben zu lange keine Reform zustande gebracht.
Je stärker der Bundesrat die Mehrwertsteuer erhöht, desto länger schieben Sie die Debatte über ein höheres Rentenalter hinaus.
Dass es Zusatzeinnahmen braucht, um das Loch bei der AHV zu stopfen, ist unbestritten. Die Mehrwertsteuererhöhung stiess in der letzten Volksabstimmung auf eine gewisse Unterstützung. Und erinnern wir uns an die Abstimmungsdiskussion: Schon die Angleichung des Frauenrentenalters ist eine hohe Hürde.
Bei der letzten Reform wäre der Anstieg der Mehrwertsteuer deutlich tiefer gewesen, als Sie jetzt planen.
Der Vorschlag des Bundesrats ans Parlament sah eine Mehrwertsteuererhöhung von 1,5 Prozent vor. Das Parlament senkte diese und erhöhte dafür die Lohnbeiträge.
Sie wehren sich gegen eine generelle Rentenaltererhöhung, weil ältere Arbeitnehmer im Arbeitsmarkt angeblich benachteiligt sind. Nun ist die Erwerbsquote der über 55-jährigen Arbeitnehmer so hoch wie noch nie. Lässt sich Ihre Argumentation noch halten?
Ältere Arbeitnehmer sind nach wie vor benachteiligt. Zwar trifft es zu, dass diese künftig wegen der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels vermehrt gefragt sein werden. Eine starre Fixierung auf ein generell höheres Rentenalter ist aber der falsche Weg. Wenn wir die richtigen Anreize setzen, arbeiten mehr Leute freiwillig länger. Ziel muss sein, dass das effektive Pensionsalter steigt.
Aber was bringt die Flexibilisierung des Rentenalters der AHV, wenn das Rentenalter bei 65 Jahren bleibt?
Die Flexibilisierung soll den individuellen Bedürfnissen der Leute Rechnung tragen und einen längeren Verbleib im Erwerbsleben ermöglichen, etwa durch eine Teilrente. Dies bringt auch zusätzliche Einnahmen. Wer nach 65 arbeitet, wird zumindest auf einem Teil seines Lohnes AHV-Beiträge bezahlen.
In der Baubranche tobt ein Streit um das Rentenmodell. Die Auffangeinrichtung hat angekündigt, nicht mehr automatisch jeden Bau-Frührentner, der nicht bei seiner angestammten Pensionskasse bleiben kann, aufzunehmen und bis zum AHV-Alter versichern zu müssen. Darf sie das?
Auffangeinrichtung und Stiftung FAR sind unabhängige Vorsorgeeinrichtungen, die von den Sozialpartnern getragen werden. Ob die Kündigung des Vertrags durch die Auffangeinrichtung rechtlich korrekt war, müssten die Gerichte beurteilen. Als Bundesrat erlaube ich mir aber, die Sozialpartner an ihre Verantwortung zu erinnern. Die Bauarbeiter, die lange hart gearbeitet haben, dürfen nicht im Stich gelassen werden. Die Sozialpartner müssen sich zusammensetzen und eine Lösung finden.
Sie haben viel politisches Kapital für die Rentenreform eingesetzt und sind gescheitert. Das Gesundheitswesen bleibt ein dornenreiches Dossier. Gibt es Momente, in denen Sie den Bettel hinschmeissen möchten?
Auf keinen Fall. Bei den Renten und der Gesundheit sind Reformen sehr schwierig, aber auch sehr wichtig. Die Themen in meinem Departement sind für die Bevölkerung existenziell. Genau dies motiviert mich.
Der Bundesrat erwägt die Einführung eines Globalbudgets. Zeigt dies, dass die meisten Anläufe zur Kostendämpfung gescheitert sind?
Die Probleme im Gesundheitswesen rücken nun stärker in den Fokus der Parteien und Organisationen, was ich begrüsse. Ich habe mich bisweilen einsam gefühlt. Neben dem Bundesrat kommt auch den Kantonen und anderen Akteuren eine wichtige Rolle für die Kostendämpfung zu. Gezeigt hat sich der neue Support für Reformen bei der Tarmed-Revision, die politisch praktisch unbestritten war.
Wie sieht die konkrete Ausgestaltung eines solchen Kostendachs aus?
Es besteht doch die Gefahr, dass es zu Verschiebungen in den ambulanten Sektor kommt.
Ziel muss es ein, dass die Kostenentwicklung im Gesamtsystem gedämpft wird, also im ambulanten und stationären Bereich zusammen. Es ist sicher eine der grossen Herausforderungen, Umgehungseffekte zu verhindern.
Zum Bundespräsidium: Sie sagten Anfang Jahr, eine rasche Einigung mit der EU zum Rahmenabkommen sei unrealistisch. Halten Sie trotz den Fortschritten in den Verhandlungen an dieser Einschätzung fest?
Sie bezog sich auf die Aussage von EU-Kommissions-Präsident Juncker von November 2017, wir würden uns bis im April 2018 einigen. Die Entwicklung ist derzeit tatsächlich positiver als damals. Am Schluss können wir dann beurteilen, ob das ausgehandelte Rahmenabkommen unseren Interessen dient.
Die EU wird kaum akzeptieren, dass die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit vom Rahmenabkommen ausgenommen werden, wie es der Bundesrat verlangt. Wie wichtig sind diese für die Schweiz?
Sie sind zentral für unseren Wohlstand und sie schützen unseren Arbeitsmarkt. Auch in der EU laufen Diskussionen über den stärkeren Schutz der einheimischen Arbeitskräfte. Das hilft uns.
Die Schweiz geht aber deutlich weiter als die EU. Sehen Sie hier trotzdem Spielraum für einen Kompromiss?
Wir zeigen der EU auf, warum die Flankierenden für uns so wichtig sind – auch für die politische Mehrheitsfähigkeit. Im Idealfall gibt es eine Dynamik wie bei der Streitbeilegung, bei der wir mit der EU lange gerungen haben und nun auf einem guten Weg sind. Wir verhandeln hart und werden dann sehen, wo wir am Ende landen.
Konkret geht es um die Meldefrist von acht Tagen für Betriebe aus der EU und die Kautionspflicht. Lehnen Sie ein Rahmenabkommen ab, wenn diese beiden Punkte nicht garantiert sind?
Der Bundesrat war immer sehr klar: Beide Punkte gehören zu den roten Linien, die für uns zentral sind. Das Verhandlungsmandat, das sehr präzis ist in dieser Frage, gilt nach wie vor. Am Schluss entscheidet das Stimmvolk über das institutionelle Abkommen.
Wenn auf technischer Ebene keine Einigung möglich ist: Haben Sie bereits ein Treffen mit EU-Kommissions-Präsident Juncker geplant, um eine politische Lösung zu erzielen?
Es gibt keine konkrete Planung. Falls es dient und nötig ist, treffen wir uns selbstverständlich. Wir warten den Verlauf der Verhandlungen ab und ziehen dann vor dem Sommer eine Bilanz.
Es besteht ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der EU und der Schweiz: Die EU möchte mit dem Rahmenabkommen die für sie störenden flankierenden Massnahmen aufweichen, die Schweiz jedoch will um jeden Preis an diesen festhalten. Ist da überhaupt eine für beide Seiten gute Lösung möglich?
Ich gehe davon aus, dass eine Einigung möglich ist. Und halten wir uns vor Augen: Der Grund für die Verhandlungen über das institutionelle Abkommen ist die Weiterentwicklung unser beider Beziehungen punkto Rechtssicherheit, Marktzugang und stabilen Verhältnissen.
Wie hat sich die Dynamik im Bundesrat mit dem neuen Mitglied Ignazio Cassis verändert?
Es ist erst das zweite Mal, dass ich einen Wechsel im Bundesrat erlebe. Der Bundesrat funktioniert wie ein Team, eine neues Mitglied bringt ein neues Gleichgewicht. Ignazio Cassis bringt seine Sensibilität der italienischsprachigen Schweiz ins Gremium. Die Diskussionen werden nicht nur pro forma geführt, sondern dauern zu einen Themen manchmal mehrere Stunden.
Bundesratswahlen sind aufwendig und absorbieren Kapazitäten des Parlaments. Wäre es deshalb besser, Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann würden nach ihren angekündigten Rücktritten das genaue Datum absprechen?
Aus institutioneller Sicht sehe ich dies nicht so. Als Parlamentarier habe ich die Mehrheit meiner heutigen Kollegen im Bundesrat mitgewählt. Ich war beim ersten Mal überrascht, wie klein für mich der Zeitaufwand zur Vorbereitung der Wahlen war – schätzungsweise 5 Prozent meiner damaligen Tätigkeit als Ständerat während rund zweier Monate. Der Eindruck in den Medien täuscht.
Im Juni empfangen Sie – als gläubiger Katholik – in Genf Papst Franziskus. Planen Sie auch einen Besuch beim Papst in Rom?
Ja, ich habe eine Reise nach Rom in der zweiten Jahreshälfte vorgesehen.