Erinnerung muss zukunftstauglich sein

Zürich, 27.05.2015 - Rede von Bundesrat Alain Berset im Schweizerischen Institut für Auslandforschung – Es gilt das gesprochene Wort.

Die Schweiz ist ein Land der Gegensätze, dem es aber gelingt, diese Gegensätze immer wieder zu überwinden.

Wir sind dynamisch und bodenständig. Geht das zusammen? Ja. „Das Auto fährt schnell, weil es Bremsen hat", schrieb einst der Ökonom Joseph Schumpeter, der Theoretiker der kreativen Zerstörung, der etwas von Dialektik verstand.

Wir sind Mythomanen und Mythen-Zertrümmerer. Wir sind gut im Jodeln - aber wir beherrschen auch das „negative Jodeln", wie der Autor Hugo Loetscher die reflexhafte Kritik an der Schweiz einst nannte.

Wir vereinen sogar Griesgram und Glückseligkeit! Kürzlich wurden wir zum glücklichsten Volk der Welt gewählt. Ich weiss nicht, ob die Autoren dieser Studie je in der Schweiz waren, zum Beispiel am Montagmorgen um 7 Uhr im Tram.

Das Schweizer Talent zur Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren zeigt sich besonders schön bei der DADA-Bewegung. 1916 war Dada die Avantgarde, die gegen alles Bürgerliche wütete. Im Januar 1917 wurde die Galerie „Dada" eröffnet. Und zwar nicht irgendwo - sondern just am Zürcher Paradeplatz.

Bei einem Thema jedoch glückt uns diese dialektische Aufhebung der Gegensätze nicht: Bei der Bewertung unserer Geschichte. Hier zeigt sich
vielmehr, dass die beiden Betriebssysteme, auf denen unsere kollektive Sinnstiftung läuft, gelegentlich aneinander vorbeirattern.

Unsere politische Kultur, die auch den gesetzgeberischen Alltag in Bundesbern prägt, zielt auf Kompromiss und Konsens. Man tastet sich vor, das Florett ist gefragt. Man ist skrupulös darauf bedacht, es sich mit niemandem dauerhaft zu verscherzen. In der Sphäre der medial ausgefochtenen politischen Debatten hingegen wird der Zweihänder geschwungen. Hier prallen die Weltsichten ohne jede Abfederung aufeinander. Da merkt man nichts von Konzilianz, Konsens, Kompromiss. Stattdessen heisst die Devise: Zoff, Zank und Zunder.

Einige Beobachter sagen, das sei wegen der Medien - also ganz nach dem Motto: Man soll den Medien die Schuld geben, solange es sie noch gibt. Aber die Gründe liegen natürlich tiefer: Unsere Politik wird angesichts von Globalisierung und Europäisierung volatiler. Verteilkämpfe und Identitätsfragen tragen zur Polarisierung bei. Der binäre Code, mit dem wir die Realität zu entschlüsseln versuchen, ist immer noch dominant; auch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Kriegs, und obwohl sich die Konstellationen der Gegenwart diesem simplen Code zuverlässig entziehen.

Und ebenso verhält es sich mit unserer Geschichte. Sie taugt nicht zu Entweder-Oder-Positionierungen. Vielmehr verspielen wir durch diese binär eingeengte Sicht eine grosse Chance. Ein genauer Blick auf unsere Geschichte stärkt uns, während die Geschichtsdebatte als reine Manifestation eines Kulturkampfes uns schwächt.

Die Gegenüberstellung der Alten Eidgenossenschaft und der modernen Schweiz scheint mir etwas steril. Die heutige, erfolgreiche Schweiz hat tiefe Wurzeln in der Alten Eidgenossenschaft. Man denke nur an die Tradition der Gemeindeautonomie oder natürlich an den Föderalismus.

Auch ist die Sicht stark verkürzt, dass nur der Bundesstaat „moderne" Lösungen hervorbringen konnte. Es waren Landsgemeinde-Beschlüsse, die in Glarus als erstem europäischem Staatswesen den gesetzlichen Zwölfstundentag einführten; ebenso das Verbot der Nachtarbeit und der Kinderarbeit in Fabriken.

Und auch der Hinweis, dass wir Mythen brauchen, ist berechtigt. Ich würde sogar sagen: Je vielfältiger ein Land ist, desto mehr Mythen braucht es, um es zusammenzuhalten. Der Rückgriff auf mythenträchtige Vorkommnisse war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur wichtig, sondern zwingend, um die Verlierer des Sonderbunds zu integrieren.

Doch auch wenn wir der Alten Eidgenossenschaft und den mit ihr verbundenen Mythen ihren legitimen Rang zugestehen: Wir sollten dabei nie die historische Realität ausblenden.

Die Schweiz in ihren heutigen Grenzen und als Föderation von gleichberechtigten Kantonen gibt es erst seit 1815. Es sind vor allem unsere
Institutionen und Grundwerte, die uns als Nation seit dem 19. Jahrhundert zusammenhalten, vom Initiativ- und Referendumsrecht über das Proporzwahlrecht bis hin zur Mehrsprachigkeit und zur Meinungsfreiheit, ohne die wir gar keine Debatten führen könnten.

In der Alten Eidgenossenschaft möchten wohl nicht viele von uns Heutigen leben. Man denke nur an die marodierenden Gewalthaufen, die für die frühe Neuzeit typisch waren. Wenn die heute ihr Unwesen trieben, würden wohl auch die ärgsten Kritiker des Staates eine unverhoffte Sehnsucht nach demselben verspüren.

Gewiss: Die Alte Eidgenossenschaft hat Relevanz für die Gegenwart, aber die Geschichte der modernen Schweiz ist wesentlich relevanter für uns. Am stärksten prägen uns heute die tektonischen Verschiebungen der jüngsten Vergangenheit: Der Fall der Berliner Mauer und die Finanzkrise.

Das Jubiläumsjahr bietet uns die Chance, die Grundsatzfrage an unsere Geschichte nochmals neu zu stellen: Was war wirklich entscheidend? Vielleicht erkennen wir ein Muster, wenn wir von der 15er-Jubiläumsreihe kurz abstrahieren. Der Historiker André Holenstein hat auf die problematischen Aspekte von Geschichtsjubiläen - Morgarten, Marignano, Wiener Kongress - hingewiesen: Sie zwingen uns, die ihnen jeweils inhärenten Narrative mit ihrer spezifischen Logik auf. Dabei geraten aber die Prozesse aus dem Blick, die sich nicht an einem einzelnen Ereignis festmachen lassen - und die sich deshalb auch schlecht oder gar nicht auf eine Jahreszahl herunterbrechen lassen. Welche Leitmotive können wir in der «longue durée» unserer Geschichte erkennen?

Erstens: Reibungsfrei war das Verhältnis zu unseren Nachbarn noch nie. Etwas anderes war und ist undenkbar angesichts unserer Lage mitten auf einem Kontinent, der heute als Friedensinsel gilt, der aber - auch abgesehen von den beiden Weltkriegen - über die Jahrhunderte für Krieg und Unruhen stand, und den der britische Historiker Mark Mazower deshalb treffend den «dunkeln Kontinent» genannt hat. Wer auf der Zeitachse zurückgeht, stellt fest: Politisch einfacher als heute war es für die Schweiz nur selten - nämlich vor allem während des Kalten
Kriegs. Diese Periode dient uns heute ganz selbstverständlich (wenn wohl auch unbewusst) als Schablone, auf der wir die Gegenwart als besonders herausforderungsreich beurteilen. Tatsächlich aber stellen diese stabilen Jahre des Kalten Kriegs die historische Ausnahme dar.

Zweitens: Es braucht Realismus, Pragmatismus und strategische Intelligenz. Eine wichtige Lektion der Niederlage von Marignano lautet: Man
muss die Grenzen der eigenen Macht realistisch einschätzen. Das gilt ganz besonders für den Kleinstaat, der die Realitäten ja typischerweise nicht selber schafft, sondern mit ihnen konfrontiert wird. Wie geschickt die Alte Eidgenossenschaft und auch der moderne Bundesstaat sich positioniert haben, merkt man erst, wenn man das volatile und bedrohliche geopolitische Umfeld ernst nimmt.

Verdankten wir das Überleben unseres Staates allein unserem Willen? Nein. Der Wille zur Selbständigkeit allein hätte nicht gereicht, das Überleben unseres Landes durch die Jahrhunderte zu sichern. Es brauchte immer auch eine realistische Einschätzung der Handlungsoptionen, strategische Intelligenz und eine abgeklärte Interessenpolitik.

Der Zürcher Historiker Emil Usteri hat darauf hingewiesen, wie sehr Interessenpolitik unser Handeln nach Marignano geprägt hat: „Es ist
erstaunlich, wie rasch die Eidgenossenschaft, nachdem sie ein halbes Jahrzehnt den leidenschaftlichen Kampf gegen Frankreich geführt hatte, sich zu einem dauernden Frieden bereit erklärte mit entsprechendem Abbau der Vergangenheit und Sicherung für die Zukunft."

Konkret: Wir lieferten Frankreich Söldner und erhielten dafür Protektion und Privilegien. Auf die Idee, dass dies nun Ausdruck unserer neu
gewonnen Neutralität war, kommt man nicht spontan.

Drittens: Was unsere Geschichte stark prägt, ist unsere Entschlossenheit, zusammenzuhalten. Die Reformation riss die alte Schweiz ab
dem 16. Jahrhundert fast auseinander. Der Konfessionsstreit zwang die Kantone, sich aus den Religionskriegen in Europa herauszuhalten, um nicht die Allianzen untereinander zu gefährden. Dieses «Stillsitzen» war für die Entwicklung der Neutralität von entscheidender Bedeutung. Die Alten Eidgenossen handelten klug und pragmatisch. Sie hielten zusammen.

Besonders stark waren die kulturellen Fliehkräfte während des Ersten Weltkriegs. Als die alemannische Schweiz überwiegend mit Deutschland
sympathisierte, die Romandie mit Frankreich. Aber auch damals widerstanden wir den nationalistischen Sirenengesängen. Wir hielten zusammen.

Dieser Grundwert des Zusammenhaltens manifestiert sich auch am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, in der Geistigen Landesverteidigung, mit der die multikulturelle Schweiz auf den Faschismus im Norden und im Süden reagierte. 1938 wurde das Romanische als Landessprache anerkannt. Wir hielten zusammen.

Und ein Jahr zuvor kam es zum Arbeitsfrieden, dem historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit. Wir gingen aufeinander zu. Das war
Solidarität auf Schweizer Art. Unspektakulär, ohne grosses Brimborium, aber solid und nachhaltig. Andere Länder haben ihre internen Zerreissproben in den 1930er-Jahren nicht bestanden.

Die Geschichte der Schweiz ist die Geschichte ihrer immer wieder überwundenen Gräben - seien sie religiös, politisch, sprachlich oder sozial.
Ist diese Aufgabe je zu Ende? Nein, sie kann es nicht sein. Wir müssen immer wieder herausfinden, was eine Thurgauerin mit einem Genfer verbindet, was eine Tessinerin mit einem Basler. Die Schweiz entsteht, indem sie sich selber entdeckt. Diesbezüglich geniessen wir, die wir Stabilität so schätzen, das etwas unbequeme Privileg immerwährender Dynamik. Gerade deshalb ist unser Land integrationspolitisch so erfolgreich, obwohl der Ausländeranteil fast ein Viertel beträgt und damit weit höher liegt als in unseren Nachbarstaaten.

Dass die Schweiz keine eigentlichen Parallelgesellschaften kennt, ist ein aussergewöhnlicher Erfolg. Wieso spricht man so wenig darüber? Vielleicht weil der Erfolg unsichtbar ist - im Gegensatz zum Misserfolg, den man in den Trabantenstädten Europas beobachten kann.

Heute ist das Thema Zusammenhalt auch wirtschaftlich aktuell: Die im internationalen Vergleich auffällige Ungleichverteilung der Vermögen birgt Konfliktpotenzial. Umso mehr müssen wir die Altersvorsorge so reformieren, dass ein Alter in materieller Würde auch künftig für alle gewährleistet ist und dass ein Generationenkonflikt vermieden werden kann. Eine erfolgreiche Reform der Altersvorsorge wäre auch ein strategisch gutes Investment in den Standort Schweiz. Das kostet etwas, aber es bringt auch soziale Stabilität, die ja alle Kreise hierzulande als erstrebenswert erachten; und die sogar Grundlage der Geschäftsmodelle ganzer Branchen ist.

Viertens: Zufall ist die mächtigste Kraft in der Geschichte. Auch eine gewisse Demut gehört zu einer realistischen Analyse. Ein hübsches Bonmot aus der frühen Neuzeit lautet, die Eidgenossenschaft werde zusammengehalten von der „providentia Dei et confusione hominum", also durch die Vorsehung Gottes und die Konfusion der Menschen.

Teleologische Herleitungen sind irreführend und beruhen manchmal wohl auch ein bisschen auf Denkfaulheit. Zwangsläufig ist jedenfalls gar nichts - weder in der Geschichte noch in der Gegenwart. Zwangsläufig ist höchstens, dass die Unfallgefahr wächst, je länger man beim Autofahren in den Rückspiegel schaut.

Fazit: Unser Erfolg als Nation gründete früher und gründet heute noch auf einer umsichtigen Politik des kulturellen und gesellschaftlichen
Zusammenhalts im Innern sowie auf einer klugen und kühlen Interessenpolitik im Äussern. Wenn wir uns dieser Grundlagen wieder stärker bewusst werden, dann hat sich das Jubiläumsjahr 2015 gelohnt.

Auf die relative Stabilität nach dem Ende des Kalten Krieges - amerikanische Vormacht, wachsender Wohlstand für Viele und teilweise
konstruktive Zusammenarbeit der mächtigen Staaten - folgt nun eine Ära, die von einer unsicheren geopolitischen und wirtschaftlichen Lage geprägt ist.

Der westliche Optimismus nach dem Ende des Kalten Krieges ist verflogen und beträchtlichen Selbstzweifeln gewichen; an «nation building» unter westlicher Ägide glaubt niemand mehr; der Nahe Osten ist in Aufruhr, weite Teile sind in der Hand der Terrororganisation, die sich selber «Islamischer Staat» nennt; vor Terrorismus ist man nirgends mehr absolut sicher; Russland hat in der Ukraine das Tabu unveränderlicher Grenzen in Europa gebrochen; ein Machtgerangel prägt die Politik in Asien; und schliesslich erleben wir eine EU, die sich in der tiefsten Krise ihrer Existenz befindet.

Es stellt sich die Frage: Kann man aus der Niederlage von Marignano oder aus dem Wiener Kongress wirklich sinnvolle Schlüsse darauf ziehen, wie die Schweiz heute ihre Interessen in Europa wahrnehmen soll? Der Historiker Herbert Lüthy schrieb vor genau 50 Jahre: „Statt unsere Geschichte als einen Prozess zu sehen, in dem wir selbst stehen und an dessen Weitergestaltung wir mitwirken, den wir aber nie umkehren und nie wiederholen können, neigen wir dazu, sie als eine historische Sammlung von Verhaltensmodellen zu betrachten (....). Es ist eine Sucht zur Verklärung der Vergangenheit, je ferner desto verklärter, zur Verketzerung der Gegenwart, wo sie Gegenwart und nicht fromme Museumswärterei sein will, und zur apokalyptischen Verdüsterung der Zukunft; doch eine Anleitung zum Tun ergibt sich daraus nicht."

Zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit unserem wichtigsten Handelspartner, der EU, mit deren wichtigsten Mitgliedern wir auch kulturell
aufs engste verbunden sind, gibt es keine sinnvolle Alternative. Wir müssen versuchen, die Schweiz und ihre Positionen zu erklären - aber ebenso, das Gegenüber zu verstehen und unseren Spielraum abzuschätzen. Natürlich: Der Kern unseres Selbstverständnisses - direkte Demokratie, Föderalismus, Mehrsprachigkeit, ein effektiver Sozialstaat - muss dabei gewahrt werden.

Jetzt sind wir als selbstbewusste Pragmatiker gefordert, wie schon so oft in unserer bewegten Geschichte. Schauen wir auf unsere Kantonswappen. Wir sehen eine eindrückliche Fauna: Bär, Löwe, Stier, Steinbock. Ein Tier aber fehlt bezeichnenderweise: Der Vogel Strauss.

Die Erinnerungspolitik des späten 19. Jahrhunderts wurde ja auch als Festigung der Identität im Hinblick auf die Zukunft gemacht - und nicht als Vergangenheitsbetrachtung.

Die Parallelen zu damals sind frappierend. Ende des 19. Jahrhunderts, als das bis heute dominante Geschichtsbild der Schweiz entwickelt wurde, gab es - wie heute - rasenden Wandel, wachsende Ungleichheit, Globalisierung, eine Transformation der globalen Ordnung mit den aufstrebenden neuen Mächten Deutschland und USA, die das internationale Macht-Gleichgewicht störten.

Heute sehen wir eine ähnliche Offenheit: Die Vermögensverteilung nähert sich in vielen Ländern wieder jener der „Belle Epoque" an. Die Migration ist auch heute wieder ein grosses Thema. Das Bedürfnis nach einer möglichst robusten nationalen Identität keimt wieder auf, wie damals. Und wenn damals die Zweite Industrielle Revolution vonstatten ging, so stehen wir momentan wohl an der Schwelle zu einer weiteren Revolution, der digitalen. Die zu vergleichbaren sozialen Verwerfungen führen dürfte.

Angesichts dieser Gemengelage ist die reine Fortschreibung der Geschichte zu wenig. Wir brauchen ein realistisches Selbst- und Geschichtsbild
für die multipolare und volatile Welt des 21. Jahrhunderts. Keine Zukunft ohne Herkunft - dieses Mantra ist ebenso trivial wie zutreffend. Aber ebenso gilt: Keine Herkunft ohne Zukunft. Wie heisst es doch in «Alice im Wunderland»: «Es ist eine ärmliche Art von Erinnerung, die nur rückwärts funktioniert.»


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