Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Bern, 25.04.2018 - Rede von Bundespräsident Alain Berset anlässlich des Staatsbesuchs des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier - Es gilt das gesprochene Wort.

Herr Präsident der Bundesrepublik Deutschland,
Liebe Frau Büdenbender,
Exzellenzen,
Liebe Bundesrats-Kolleginnen und -Kollegen,
meine Damen und Herren

Geht es um die Schweiz, klaffen Wahrnehmung und Realität beträchtlich auseinander. Wer an die Schweiz denkt, sieht oft noch immer das Heidi über saftige Wiesen rennen. Tatsächlich aber ist die Schweiz eines der urbansten und am stärksten globalisierten Länder der Welt. Als die Autorin von Heidi, Johanna Spyri, 1827 zur Welt kam, steckte die Schweiz bereits mitten in der Industrialisierung. Als zweites Land überhaupt - nach Grossbritannien.

Gerade die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zeigen aber auch: Es gibt eine beträchtliche Schnittmenge von Klischee-Schweiz und realer Schweiz. Denn tatsächlich sind nicht nur Maschinenindustrie, Versicherungen und Pharma wichtige Exportbranchen, sondern eben - wie man spontan vermuten würde - tatsächlich auch Uhren, Schokolade und Käse. Fast die Hälfte des Käses, den die Schweiz exportiert, geht nach Deutschland.

Klischees und Realität sind im Falle der Schweiz also gut vermischt - „moitié-moitié" sozusagen, wie ein Fondue aus Gruyère und Vacherin aus meinem Kanton Fribourg, den wir morgen gemeinsam besuchen.

Übrigens ist für das klassische Schweiz-Bild ein Deutscher massgeblich verantwortlich: Ich meine natürlich Friedrich Schiller mit seinem «Wilhelm Tell». Er hat der Welt - und uns selber - ein Schweiz-Bild geschenkt, das bis heute nachwirkt.

Dabei war Schiller nie in der Ur-Schweiz - auch nicht nach der Niederschrift seines „Wilhelm Tell". So sah Schiller nie, wie sehr seine Darstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Oder, wie der österreichische Theaterkritiker Hans Weigel ironisch präzisiert: „wie sehr sich die Gegend rund um das Rütli nach Schillers Anweisungen richtet."

Ich weiss: Staaten haben keine Freunde - nur Interessen. Aber so klar lassen sich Interessen und Freundschaft gar nicht trennen. Ja, man kann - zumindest im Fall unserer beiden Länder - getrost von Liebe reden: Mehr als 20‘000 gemischte Ehen wurden in den letzten 10 Jahren in der Schweiz geschlossen. Derzeit sind es jährlich rund 2200, Tendenz steigend. Über 300'000 Deutsche leben heute in der Schweiz - und rund 90‘000 Schweizerinnen und Schweizer in Deutschland.

Nicht weniger eindrücklich sind die wirtschaftlichen Zahlen. Gemäss provisorischen Statistiken, erreichte das Handelsvolumen zwischen unseren Ländern im letzten Jahr rund 100 Milliarden Franken - das ist mehr als das Handelsvolumen Deutschlands mit Japan, Indien, Kanada und Brasilien zusammen.

Unsere beiden Länder bilden auch eine Wertegemeinschaft. Wir setzten uns ein: für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit, Toleranz und Solidarität, für die Stärke des Rechts vor dem Recht des Stärkeren, für Menschenrechte, Frieden und Demokratie.

In der Flüchtlingsfrage trägt die Schweiz die Vorschläge von Deutschland im Rahmen der EU mit. Unser Land betreibt freiwillig Relocation und Resettlement.

Und nicht zuletzt trägt die Schweiz mit den ausgebauten Nord-Süd-Verbindungen - Stichwort Gotthardtunnel - massgeblich zu einer funktionierenden Infrastruktur in Europa bei.

Die Schweiz ist stark in die Europäische Union integriert - stärker als viele Mitgliedsländer. Es ist deshalb auch nur logisch, dass beide Seiten an guten und geregelten Beziehungen interessiert sind. Wir wollen diese Beziehungen weiter entwickeln und zukunftsfähig machen.

Die gegenseitigen wirtschaftlichen Interessen sind offensichtlich - punkto Identität und Institutionen ist die Situation etwas komplizierter. Und zwar gerade, weil die Schweiz eines der europäischsten Länder ist - geographisch, geschichtlich, kulturell. Die Schweizer Identität konstituiert sich seit jeher in einer Dialektik von Verflechtung und Abgrenzung.

An die enge historische Verflechtung mit unseren nördlichen Nachbarn erinnert uns ein kleines Kapitel der Schweizer Geschichte des 18. Jahrhunderts: Während der Regierungszeit Friedrichs II. stellten die Schweizer ein Drittel aller Mitglieder der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Unter ihnen so illustre Köpfe wie Nicolas de Béguelin, Johannes Bernoulli oder Leonhard Euler. Diese genossen nicht nur aufgrund ihrer wissenschaftlichen Kompetenzen hohes Ansehen. Sondern auch aufgrund ihrer sprachlichen und kulturellen Kompetenzen zumal ja am Hofe von Friedrich II. Französisch gesprochen wurde.

Umgekehrt verdankt die Schweiz deutschen Einwanderern bekanntlich sehr viel. So retteten sich im Zuge der überall - ausser in der Schweiz - gescheiterten Revolutionen von 1848 viele hervorragende Deutsche in die Schweiz. Aus Dresden flüchteten zum Beispiel Gottfried Semper und Richard Wagner - beide wegen revolutionärer Umtriebe. Semper verdanken wir das Hauptgebäude der ETH Zürich, Wagner unter anderem die Oper «Tristan und Isolde», die er 1859 in Tribschen bei Luzern beendete.

Oder denken Sie an die Künstlerinnen, Literaten und Schauspielerinnen, die in der Schweiz aktiv waren, an Emmy Ball-Hennings und Hugo Ball, die den Dadaismus mitgegründeten. Oder an Maria Becker, die am Schauspielhaus Zürich Theatergeschichte schrieb.

Aber nicht alle fanden den Weg in unser Land unter so dramatischen Umständen wie Wagner, Semper oder Becker: So verschlug es im Jahre 1839 den deutschen Wandergesellen Heinrich Nestle aus Frankfurt an den Genfersee, wo er ein heute weltweit tätiges Unternehmen gründete.

Die enge kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verflechtung mit unseren Nachbarn in Europa, insbesondere mit Deutschland, war schon lange vor der EU eine unverzichtbare Bedingung für eine erfolgreiche Schweiz. Und sie ist es selbstverständlich auch heute noch.

Wir leben heute auf einem friedlichen - oder genauer: einem befriedeten - Kontinent. Dazu hat die europäische Integration entscheidend beigetragen. Trotz aller Probleme mit dem Euro und mit der Migration darf man nicht vergessen: Der heutige Zustand Europas ist so gut, wie er es nur selten war in der Geschichte.

Das ist eine Tatsache. Aber Sie wissen ja: Die Tatsachen haben heute einen schweren Stand. Dieses Misstrauen ist nicht einfach Ausdruck einer kollektiven Verirrung ins Irrationale. Dahinter steckt eine grosse Verunsicherung vieler Menschen.

Deshalb müssen wir gegen die grassierende Unsicherheit angehen mit einer Politik der Stabilität. Mit einer Politik der möglichst gerechten Lebenschancen, der sozialen Sicherheit und der gesellschaftlichen Kohäsion. So werden auch die internationale Kooperation und der freie Handel, die momentan unter Druck stehen, wieder erstarken. Zu unser aller Wohl.

Und dann werden wir hoffentlich alle auch wieder den aufklärerischen Mut aufbringen, auch solche Zahlen und Fakten zur Kenntnis nehmen, die nicht unbedingt in unser Weltbild passen. Die uns vielleicht sogar ausgesprochen lästig sind.

Ich habe hier eine solche Statistik, der ich jetzt einfach mal glaube, obwohl ich sie nicht selber gefälscht habe: In 51 Länderspielen gegen Deutschland hat die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft 9 Mal gesiegt, 6 Mal unentschieden gespielt und 36 Mal haben wir verloren.

Mit Schrecken haben wir deshalb zur Kenntnis genommen, dass unserem langen Traum, an einer Fussball-WM wieder einmal die Viertelfinale zu erreichen - seit 1954 zum ersten Mal - gerade diesmal Deutschland im Wege stehen könnte! Falls wir die Gruppenrunde überstehen, könnten wir am 3. Juli im Achtelfinale auf Deutschland treffen.

Ich wage eine Prognose zu diesem Spiel, von dem wir noch gar nicht wissen, ob es stattfinden wird: Selbst wenn die Schweiz ihre Statistik verbessert - was wir natürlich hoffen - werden unsere Beziehungen ausgezeichnet bleiben. 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Frank, liebe Elke Büdenbender, der Bundesrat, der hier in corpore vereint ist, heisst Sie und Ihre Delegation herzlich bei uns willkommen. Und wir freuen uns auf den kommenden Austausch und die gemeinsame Zeit.


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