Die falsche Macht der Monster

Bern, 28.10.2021 - Rede von Bundesrat Alain Berset beim Schweizerischen Institut für Auslandforschung an der Universität Zürich am 20.10.2021

«Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.» Antonio Gramsci’s berühmte Charakterisierung der Zwischenkriegszeit klingt unbehaglich aktuell.

Auch wir leben in einem Interregnum. Die liberale Nachkriegsordnung bröckelt. Sie hat in weiten Teilen der Welt für stabile politische Verhältnisse und für präzedenzlosen Wohlstand gesorgt. Ihr Versprechen lautete: Jeder Generation wird es besser gehen als der vorangegangenen.

Heute hat sich dieser Optimismus nicht nur verflüchtigt, er hat sich in sein Gegenteil verkehrt: Ernüchterung prägt den Zeitgeist. Und von der Ernüchterung ist es – weil das Versprechen der «trente glorieuses» in vielen Köpfen noch immer nachhallt – nur ein kleiner Schritt bis zur Empörung.

Wir sehen uns mit einer Vielzahl gewaltiger Herausforderung konfrontiert. Von geopolitischer Verunsicherung in manchen Teilen der Welt bis zur Klimakrise. Von Flüchtlingsströmen über das selbstbewusste Machtgehabe autoritärer Regime bis zu einer Pandemie der «fake news».

Der Zustand traditioneller Volksparteien spiegelt dieses Malaise, in vielen Ländern befinden sie sich in einer tiefen Krise. Die politische Landschaft in Deutschland ist trotz der Fünfprozenthürde zerklüftet, in Frankreich haben die Sozialisten schon vor einigen Jahren ihr Hauptquartier verkauft. Und das Rassemblement National von Marine Le Pen wird im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen bedrängt – von rechts!

Das grässlichste Monster ist vielleicht das Schweigen, der Boykott des demokratischen Prozesses. In Frankreich und in Deutschland haben sich Millionen von Wahlberechtigten vom politischen Prozess abgewandt. Vor allem in ärmeren Gegenden ist die Wahlbeteiligung so tief wie nie zuvor.

Die Resignation ist alles andere als unpolitisch – sie ist die Vorstufe der Demokratie-Feindlichkeit. Währenddessen boomt in den Wohlstandszonen der Gesellschaft das Neo-Biedermeier: Das Öffentliche ist nicht mehr privat und das Private ist nicht mehr öffentlich, ausser vielleicht beim «urban gardening». Und natürlich auf Instagram. Kurz: Wohin wir auch blicken, wir sehen Gramsci’s Monster.

Soweit das Narrativ, das uns die Gegenwart als schleichende Apokalypse schildert. Enttäuschung, Erbitterung, Empörung. Wir wähnen uns schon in die Zeit vor hundert Jahren zurückversetzt, mit ihrer Dramaturgie der Eskalation von Weltwirtschaftskrise, Totalitarismus und Krieg. Natürlich nicht als exakte Wiederholung, aber als unheimlichen Reim.

Aber stimmt dieses Narrativ wirklich? Was, wenn diese Monster gar keine echten Monster sind? Was, wenn es sich nur um groteske Kreaturen handelt, die man auf den ersten Blick leicht mit Monstern verwechselt?

Niemand hat so tiefschürfend über das Groteske nachgedacht wie Friedrich Dürrenmatt, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Dürrenmatt war wahrscheinlich vom Grotesken so fasziniert, weil es kaum zu fassen ist und doch allgegenwärtig. Was ist das Groteske? Das Aufeinanderprallen von Gegensätzen? Die Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen? Die Kluft zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung? Das Absurde, das sich als Normalität tarnt? Der courant a-normal, sozusagen?

Das Groteske ist ein Denkinstrument, häufig präziser als der politische Kommentar, weil es das Inkongruente sucht, statt alles Widersprüchliche schleunigst wegzubügeln.

Diesen Blick für das Groteske – es braucht ihn heute ganz besonders. Bevor man die Verhältnisse verbessern kann, muss man sie erst einmal in ihrer ganzen frivolen Abgründigkeit zur Kenntnis nehmen.

Stichwort Ungleichheit: Acht Amerikaner – es sind alles Männer – besitzen gleich viel wie die ärmere Hälfte der US-Bevölkerung, also wie 170 Millionen Menschen zusammen. Grotesk.

Oder denken Sie an Big Tech. Diese Firmen haben oft globale Monopole und stellen ein systemisches Risiko dar. Ein einziges fehlerhaftes Update bei Facebook und schon bricht die Kommunikation der halben Welt zusammen.

Und wie soll man ein Unternehmen wettbewerbsrechtlich behandeln, das alles verkauft, was es überhaupt gibt? Fensterputzmittel und Filme. Rasenmäher und Reisen ins All. In welcher Branche ist eine solche Firma tätig? Grotesk.

Denken Sie an den Wahrheitsbegriff, der sich seit einiger Zeit aufzulösen scheint. Man glaubt den Expertinnen und Experten nichts mehr – vor allem dann nicht, wenn sie über ihr eigenes Fachgebiet sprechen.

Grotesk ist auch die Machtverteilung in den «social media»: Die wirklich Aktiven sind eine kleine, vielleicht sogar winzige Gruppe, aber diese gebärdet sich als «vox populi»; und Gesellschaft, Medien und Politik glauben das oft auch noch.

Und das Groteske hat sogar eine Steigerungsform! Untersuchungen zeigen, dass sich «fake news» sechsmal so schnell verbreiten wie überprüfbare Meldungen. Interessant ist nur, was unsere Erwartungen aushebelt – je abstruser, desto besser.

Die Welt ist eine Kugel? Das mag zwar stimmen, ist aber irgendwie langweilig. Deshalb glaube ich an die Scheibe! Das war jetzt eine satirische Zuspitzung und nicht die Haltung des Bundesrates. Man muss ja vorsichtig sein heutzutage…

Der Fokus auf das Groteske scheint unpolitisch – aber das Gegenteil trifft zu: Er ermutigt uns zum Handeln. Er rüttelt uns auf. Er macht uns wütend. Nehmen wir, so wie Dürrenmatt, das Groteske zum Anlass, erst recht an den Werten der Aufklärung festzuhalten: An der Wertschätzung des Rationalen, am Fortschrittsgedanken, an Gerechtigkeitsidealen, an der Wissenschaft und an der Genauigkeit des Denkens.

Apropos Genauigkeit.

«Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.»

Der viel zitierte Satz von Antonio Gramsci lautet gar nicht so. Ich zitiere, diesmal korrekt aus seinen «Quaderni del carcere»: «Die Krise besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann: In diesem Interregnum treten die vielfältigsten morbiden Erscheinungen auf.»[1] «Fenomeni morbosi» also. Keine Monster. Das klingt schon besser.

Die apodiktischen Gross-Erzählungen vom unaufhaltsamen Niedergang: Sie sind die eigentlichen Monster unserer Übergangszeit. Sie geben uns Halt, bieten uns Orientierung; aber sie machen uns eben auch dumm. Gerade ihr allumfassender Charakter verhindert, dass wir vertieft über Entwicklungen nachdenken, dass wir alles im Blick behalten: Nicht nur das Evidente, sondern auch das auf den ersten Blick Verborgene, die «blind spots».

Statt auf vermeintliche Monster sollten wir uns auf die «morbiden Erscheinungen» und die grotesken Auswüchse konzentrieren und unser gesellschaftliches Frühwarnsystem aktivieren.

Die Demokratie überlebt nur, wenn die Leute überzeugt sind, dass die Verhältnisse veränderbar sind, dass sie den Megatrends nicht einfach ausgeliefert sind; sei es der Globalisierung oder der Europäisierung; sei es den Finanzströmen, den globalen Datenkraken oder den Migrationsbewegungen; sei es der drohenden Prekarisierung der digitalisierten Arbeitsverhältnisse oder dem Klimawandel.

Genauigkeit als Voraussetzung des Handelns: Das ist auch das Leitmotiv bei der Bekämpfung des Virus. Die stete Suche nach relevanten Fakten, nach belastbaren Aussagen wird von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung als unverzichtbare Bedingung von Fortschritt anerkannt.

Das abwägende, Evidenz-basierte Denken: Es hat die Moderne mit all ihren Fortschritten erst ermöglicht. Tun wir also alles dafür, dass die Rationalität nicht beschädigt wird in dieser Pandemie.

Wir lernen als Gesellschaft gerade, über die roten Linien nachzudenken, die im Namen unserer Demokratie nicht überschritten werden dürfen. Harte Kritik gehört zu einer vielstimmigen Debatte, ohne die wir keine guten Lösungen finden können. Aber Einschüchterung, Bedrohung und Beschimpfung all jener, die sich öffentlich äussern: Das gefährdet unsere politische Kultur und damit unseren Erfolg als Land.

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist ohne Zweifel volatil. Es werden neue, andersartige Herausforderungen auf uns zukommen – auch auf die Schweiz. Das behagliche Leben in der geopolitischen Nische neigt sich seinem Ende zu.

Gefragt ist deshalb Flexibilität und die realistische Einschätzung unserer strategischen Optionen. Gefragt ist Selbstkritik und die permanente Neubewertung von Faktenlagen. Unverzichtbar ist auch ein schärferes Sensorium für Risiken und Gefahren. Vor der Pandemie hatten wir es uns angewöhnt, Risikoberichte pflichtschuldig zu überfliegen und dann möglichst schnell zu entsorgen. Jetzt wissen wir: Die beschriebenen Risiken können unser aller Leben tiefgreifend verändern.

Gewiss: Wenn wir diese Risiken zu minimieren versuchen, bedeutet das höhere Kosten, ob man diese nun in Zeit oder Geld misst. Oder in der härtesten Währung: Aufmerksamkeit. Aber eine robuste Präventionsgesellschaft ist allemal überlebensfähiger als eine, die erst handelt, wenn es schon fast – oder schon ganz – zu spät ist. Das gilt nicht nur für den Klimawandel. Das gilt auch für gesellschaftliche Spannungen, die plötzlich in offene Konflikte umschlagen können. Das gilt für Reformen, deren Scheitern unsere Gesundheits- und Sozialsysteme gefährden könnten. Und das gilt ebenso für die Cybersicherheit, in die wir mehr investieren müssen; auch das haben die letzten eineinhalb Jahre mit ihrem Anstieg an Cyberattacken klar gemacht.

Mögliche Gefahren ernst nehmen, Warner nicht wie Kassandras behandeln, in Szenarien denken: Das alles wären wichtige Lektionen dieser Pandemie. Die Zeit der vermeintlichen Alternativlosigkeit ist jedenfalls vorbei.

There Is No Alternative. TINA.

Dieses nette Kürzel steht für das auf groteske Art perfideste Narrativ, mit dem wir es je zu tun hatten. Weil es an unsere pragmatische Vernunft appelliert, die es zum politischen Handeln braucht – uns aber gleichzeitig lähmt.

Es gibt immer Alternativen. Auch in geschichtlichen Phasen, in denen die Macht der monströsen Gewissheiten erdrückend scheint. Es gibt immer Alternativen.


[1] « La crisi consiste a punto nel fatto che il vecchio muore e il nuovo non può nascere: in questo interregno si verificano i fenomeni morbosi più svariati. »


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