Jeder von uns ist Kunst. Gezeichnet vom Leben.

Ein Gespräch über das Warten auf eine Diagnose, den Verlust von Arbeit und Kunst.

Foto: Kevin Marti
Kevin Marti

«Wenn ich gewusst hätte, dass es diese Krankheit gibt, wäre wohl einiges anders geworden.» Kevin Marti (29 Jahre alt) hat das Restless-Leg-Syndrom. Dies war lange Zeit unerkannt. Die Zeit zur Diagnose war ein beschwerlicher Weg. Kunst hilft ihm, damit umzugehen.

Kevin Marti erzählt im Gespräch über das Restless-Leg-Syndrom, kurz RLS und was man sich darunter vorstellen muss: «Das sind unruhige Beine. Es ist ein Bewegungsdrang der Beine. Total unkontrolliert. Der Körper ist eigentlich erst befriedigt, wenn die Beine in Bewegung sind. Es ist wie Ameisen durch die Füsse oder die Beine wandern und diese in Bewegung setzen.» Die Erholung in der Nacht ist kaum möglich. «Man kann es sich so vorstellen: Du lässt dein Natel in der Nacht zum Aufladen zwar eingesteckt, aber fühlst dich am Morgen, als hättest du nur noch 20% Akku.» Das RLS ist begleitet von grosser Erschöpfung, Konzentrationsstörungen und allgemeiner Benommenheit.

«Du bist ein fauler Kerl»

In der Pubertät bemerkte Kevin Marti und sein Umfeld, dass er immer müde war. Er konnte es sich nicht erklären. Sein erster Lehrmeister bezeichnete Kevin als faul und kündigte ihm die Lehrstelle vorzeitig. «Das gab schon grosse Selbstzweifel. Ich wusste damals ja noch nicht, was ich habe und wieso ich so erschöpft war. Erst mein Chef in der zweiten Lehre merkte dann aber, dass etwas nicht stimmen konnte und ich nicht einfach faul bin.». Es war denn auch dieser Lehrlingsausbildner, der Kevin nahelegte, seine Müdigkeit ärztlich abzuklären. Die Jahre danach waren mit einem langen Warten auf eine Diagnose und Depression gekennzeichnet.

Wissen wäre wichtig

Kevin betont im Gespräch immer wieder, wie sehr ihn das jahrelange «Nicht-Wissen» beschäftigte. Er wusste nicht, was er hatte. Sein Umfeld auch nicht. Seine Ärzte auch nicht. «Ich habe ja noch nie von diesem Syndrom gehört. Mein Arbeitgeber dachte, ich sei faul. Meine Ärzte machten Bluttests und sagten mir, es wäre alles gut und ich solle einfach mehr schlafen.» Er sagt, wie wichtig Sensibilisierungsarbeit sei. Einige Ereignisse und Entscheidungen in seinem Leben wären wohl anders verlaufen, hätte er die Diagnose früher erhalten. «Ich habe die erste Lehrstelle deswegen verloren. Ich hätte gerne eine Weiterbildung gemacht, traute mir das aber wegen der Erschöpfung nicht zu. Ich wäre vielleicht meinen Freunden nicht so komisch vorgekommen...» Jahrelang lebte Kevin mit dem RLS, ohne es zu wissen. Letztes Jahr erlitt er eine Erschöpfungsdepression. Erst dann schickte ihn die damals behandelnde Psychiaterin zu einem neurologischen Facharzt, welcher nach verschiedener Abklärungen die Diagnose RLS stellen konnte. «Endlich» erzählt Kevin: «Ich konnte dann zu meiner jetzigen Chefin gehen und sagen, dass ich nun weiss, wieso ich so bin, wie ich bin.» Das war erleichternd und auch befreiend. «Meine Chefin ist sehr tolerant. Sie sagte mir, ich müsse mir schon sehr Mühe geben und vorwärts machen bei der Arbeit, zeigt aber grosses Verständnis, wenn ich halt anders oder langsamer arbeite, als andere.»

Es geht weiter…

Die Diagnose hat geholfen zu akzeptieren, dass sein Alltag eingeschränkt ist. Er hat gelernt auf seinen Körper zu achten und Grenzen zu akzeptieren. Auch für sein nahes Umfeld sei es nicht immer einfach: «Es ist schon so: Ich arbeite, komme nach Hause und muss mich erholen. Manchmal bin ich so erschöpft, dass ich einfach das Telefon nicht abnehmen kann. Oder ich bin so verwirrt, dass ich mit den Hausschuhen draussen stehe und nicht mehr weiss was ich wollte.» Inzwischen nimmt Kevin Medikamente gegen das RLS. Das Absurde aber sei: «Diese Medikamente helfen zwar gut gegen die ruhelosen Beine und so sind meine Nächte besser – bringen jedoch als Nebenwirkungen ausgerechnet Konzentrationsstörungen und Benommenheit mit sich.» Kevin lacht und meint: «Davon habe ich ja aber eigentlich schon genug. Es ist halt ein Abwägen zwischen dem Nutzen und den Nebenwirkungen.»

Malen und das Gefühl von Freiheit

Es geht nicht nur um Grenzen. «Ich habe natürlich auch gute Phasen. Dann fühle ich mich wie ein richtiger Mensch, habe Energie und denke: Wow, nun kann ich etwas erledigen.» Kevin fügt an, wenn er so eine gute Phase habe, dann dauere sie höchstens vier Stunden, das wäre aber bereits viel. Gerade durch die Einschränkung, sei ihm das Gefühl von Freiheit wichtig. Dieses findet er im Malen. «Vom Leben gezeichnet»: So ist Kevin zur Kunst gelangt. «Mit dem Malen kann ich mich ausdrücken und meine Gefühle verarbeiten. Die ganzen Gedanken und Erlebnisse lasse ich dann einfach vorbeiziehen und mein ganzer Fokus liegt auf der Leinwand. Dieses Gefühl von Ausgewogenheit und Freiheit kann mir nur die Malerei geben.»

Euphorie

Das folgende Bild von Kevin Marti entstand im Herbst 2020, kurze Zeit nach seiner Erschöpfungsdepression. Er erzählt mir folgendes dazu: «Beim Malen dieses Bildes, überflutete mich ein Gefühl von optimistischer Begeisterung. Ich konnte nicht mehr aufhören, weiter zu malen. Beim letzten Pinselstrich verspürte ich ein Gefühl von Freiheit und Zufriedenheit. Deswegen trägt dieses Bild den Titel: Euphorie.

Abstrakt gemaltes Bild. Das Bild zeigt einen schwarzen Hintergrund mit Formen in verschiedenen Blautönen, Gold und wenig Grün. Die meisten Formen sind eckig, teilweise rund und sie überlappen sich.
«Euphorie» 2020, Kevin Marti

Interview und Artikel: Jasmin Cahannes, EBGB. Das Interview wurde telefonisch im Januar 2021 auf Deutsch geführt.

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Letzte Änderung 24.02.2021

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