«Der Weg zur Selbstbestimmung ist schwierig, zusammen kostet er aber nicht so viel Energie»

Axel Lankenau ist Vater von zwei schwerbehinderten Söhnen. Sowohl Jonas (16) als auch Felix (14) sind von der seltenen Erbkrankheit PCH-2 (Pontocerebelläre Hypoplasie Typ 2) betroffen. Diese fortschreitende Erkrankung des Gehirns führt zu schweren Entwicklungsstörungen. Im Juni 2021 wird der Dokumentarfilm «Wer sind wir?» in den Kinos der französischen Schweiz zu sehen sein. Darin wurde die Familie Lankenau begleitet und der Alltag einer betroffenen Familie genauer beleuchtet.

Foto von Familie Lankenau; von links nach rechts: Axel, Jonas (16), Felix (14)
Familie Lankenau: v. l. n. r. Axel, Jonas (16), Felix (14)

«Selbstbestimmtes Leben bedeutet für Jonas und Felix beispielsweise, dass sie ihre eigenen Pflegeangestellten haben». So die Antwort von Axel Lankenau auf eine der grundlegenden Frage in der Behindertenpolitik.

Arbeitgebermodell bringt Vorteile
Seit nunmehr acht Jahren beschäftigt die Familie Lankenau eigenes Pflegepersonal. Mit dem Arbeitgebermodell läuft die Familie anders als im Pflegedienstmodell nicht die Gefahr, dass eine über längere Zeit eingearbeitete und mit den Kindern sehr vertraute Pflegekraft plötzlich in einen anderen Haushalt eingeteilt wird. In den acht Jahren entstand ein gutes Verhältnis und vor allem ein grosses Vertrauen zwischen den Pflegefachkräften und der Familie.

Corona macht es nicht einfacher
Durch die COVID-19-Pandemie hat sich diese Situation natürlich nicht verbessert. Eine Erkrankung mit Corona von Jonas und Felix wäre fatal – mindestens für den Pflegealltag zu Hause, bei einem möglichen schweren Verlauf aber auch für die Gesundheit der Kinder, wenn z.B. auf den Intensivstationen die Betten ausgehen und es zu Triage-Situationen kommen wird. Deshalb pflegt die Familie mit den Pflegefachpersonen einen sehr engen Austausch und gemeinsam haben sie ein Worst-Case Szenario entwickelt, falls es tatsächlich zu einer Ansteckung von einer involvierten Person kommen sollte. Das bietet viel Sicherheit.

Partizipation - überall
Weiter sieht der inzwischen alleinerziehende Vater die Wichtigkeit, seine Söhne überall partizipieren zu lassen. Die beiden gehen auf eine private inklusive Schule. Dort nehmen sowohl Schülerinnen und Schüler mit als auch ohne Behinderung gemeinsam am Unterricht teil. Dass Kinder mit Behinderung zusammen mit anderen Kindern zur Schule gehen, fördert das gegenseitige Verständnis und damit die Inklusion ungemein, so Lankenau. Bereits nach dem ersten Schuljahr kam die Klassenlehrerin von Jonas auf die Familie zu und wollte wissen, ob es denn möglich wäre, Jonas auch zuhause zu besuchen. Diese Anfrage freute die Familie selbstverständlich und man organisierte kurz vor den Sommerferien eine School’s-Out-Party als nachgeholte Geburtstagsfeier für Jonas, zu der zunächst alle seine Schulkameraden kommen wollten. Aus Kapazitätsgründen musste die Party dann aber auf zehn eingeladene Kinder beschränkt werden. «Jonas war stolz wie Oskar, seine Freunde zuhause begrüssen zu dürfen» erzählt Axel Lankenau mit viel Freude. Das Interesse der Klassenkameraden erfreute die Familie sehr, gleichzeitig stellten sich die Lankenaus aber auch die Frage, ob denn Jonas im Gegenzug auch zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wird. Die Frage wurde direkt am ersten Schultag nach den Sommerferien mit der Einladung zum Kindergeburtstag eines gesunden Mitschülers beantwortet. Bis heute wird Jonas von einem Freund aus der Grundschulzeit besucht. Dieser ist seit vier Jahren auf dem Gymnasium und sieht Jonas nicht mehr täglich in der Schule. Die Freundschaft überlebt diese Distanz allerdings. Die Verbundenheit gilt ausserdem nicht nur für Jonas, sondern trifft genauso auf Felix und seine Schulfreunde zu.

Gute Lebensqualität – trotz allem
Gerade mit zwei Kindern, welche von PCH-2 betroffen sind, ist es wichtig, dass man der Familie trotz den vielen Herausforderungen eine gute Lebensqualität bieten kann. Dazu sind für Axel Lankenau drei Punkte elementar wichtig. Die Alltagsbewältigung muss gesichert werden. Dazu dient besonders die häusliche Krankenpflege oder auch behördliche Unterstützung. Weiter sei es für Familien mit behinderten Kindern wichtig, dass sie sich nicht verstecken. Wir müssen in der Gesellschaft sichtbar sein, die Menschen sollen verstehen und wissen, dass laufen und sprechen nicht selbstverständlich ist. Als dritter Punkt hebt der Familienvater die Teilhabe hervor. Es gilt nicht das Motto «Dabei sein ist alles». Man will bei einer Veranstaltung nicht nur dabei gewesen sein, sondern Teil davon gewesen sein.
Als Tipp an andere betroffene Eltern sagt Lankenau, dass ihm folgende Dinge sehr weitergeholfen haben: Andere Familien in ähnlichen Situation finden und sich austauschen, sowie den Willen zum Kampf nicht verlieren. Es ist ein steiniger Weg zur Selbstbestimmung, wenn man diesen Weg aber mit anderen geht, ist er einfacher und kostet weniger Energie.

Alltagskomplikation am Beispiel einer Zugreise
Dass es in einer Familie mit zwei Rollstuhlfahrern zu Herausforderungen im Alltag kommt, liegt auf der Hand. Man muss gut organisieren, um am Leben teilhaben zu können. Dazu kommen jedoch noch Komplikationen, die eigentlich vermeidbar wären. Zum Beispiel durch Unwissen oder zu geringe Sensibilisierung zum Thema seitens der Bevölkerung. Axel Lankenau erzählt eine Anekdote, die er als geeignete Metapher für viele Alltagssituationen sieht. Zwei Wochen vor einer Zugreise von Stuttgart nach Basel rief die Familie bei der deutschen Bahn an und wollte den Transport von zwei Rollstühlen anmelden. Die Gesprächspartnerin am Telefon reagierte mit Erstaunen und machte die Familie darauf aufmerksam, dass das zu kurzfristig sei. Lankenau wusste jedoch von anderen (erfolgreichen) Buchungen bei der Bahn, dass dies nicht stimmt. Er beendete das Gespräch und wählte erneut die Hotline. Bei dem zweiten Anruf verlief alles reibungslos, trotzdem war diese Situation chaotisch und nervenaufreibend. Denn wieder einmal musste er zweimal nachfragen und überzeugen. Es gibt Situationen, wo zwei Mal nachfragen aber immer noch nicht reichen, bis man zu seinem Recht kommt.

«Jeder Mensch hat Herausforderungen, die gemeistert werden müssen. Zusätzlich zu diesen, muss unsere Familie aber auch noch die Herausforderungen meistern, welche mit der Behinderung der Kinder zusammenhängen», so Axel Lankenau.

Mehr zum Alltag von Familie Lankenau gibt es ab Juni 2021 in den Kinos. Der Film geht auf die Kommunikation mit dem Gesundheitspersonal, die Kontakte mit dem Pflegepersonal, die Einschulung und den damit einhergehenden Umständen und viele weitere Themen ein. Im Film dreht sich vieles um das Thema Selbstbestimmung: wie kann ein schwerst mehrfachbehindertes Kind wie Jonas selbstbestimmt leben, was bedeutet Selbstbestimmung für die Eltern, was bedeutet das Streben danach für die Gesellschaft. Und welche Rolle die Kommunikation und das Aufeinander einlassen für ein selbstbestimmtes Leben spielen? Die ersten spannenden Eindrücke sehen Sie bereits im Trailer zum Film.
Trailer zum Film: Wer sind wir?

Interview und Artikel: Pascal Jost, Zivildienstleistender EBGB. Das Interview wurde schriftlich und telefonisch im November 2020 auf Deutsch geführt.

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Letzte Änderung 23.06.2021

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