Sébastien Kessler

Sébastien Kessler

Sébastien Kessler ist Vorstandsmitglied von Inclusion Handicap, Partner des Planungsbüros www. id-Geo.ch und Stadtrat von Lausanne.

Der Autor hinterfragt im Folgenden als betroffener Aktivist die Grenzen eines selbstbestimmten Lebens für Menschen mit Behinderungen, aber eigentlich auch für uns alle. Selbstbestimmung muss von den einen erkämpft werden und den andern fällt sie zu, doch das Ziel ist das gleiche: das volle Leben.

Selbstbestimmung ist ein bisschen wie Gleichstellung: Sie betrifft uns alle, wir sind alle gleich, aber einige sind gleicher. Soll man darin eine Diskriminierung sehen? –Aber Selbstbestimmung ist kein allgemein geltendes Recht. Ist es eine Ungleichbehandlung? – Aber es ist eine Tatsache, dass wir alle verschieden sind. Oder ist es einfach nur einen Begriff, den alle kennen, der aber in Wirklichkeit, wie die Gleichstellung, nicht leicht zu definieren ist? Denken wir an eine Person mit einer Behinderung: Sie wird sich wahrscheinlich als in anderer Weise «selbstbestimmt» betrachten als eine gleichaltrige Person mit einer anderen Behinderung, anders als ihr eigener Vater, als der Politiker, für den sie gestimmt hat, als der Fahrzeugkonstrukteur oder die Regierungsbehörde, die beispielsweise die Entwicklung innovativer Züge bewilligt oder nicht. Alle diese Menschen oder Gesellschaften werden dem Begriff der Selbstbestimmung anders definieren, manchmal an der Grenze dessen, was gut ist. Die Frage ist daher berechtigt: Was bedeutet es für Sie, selbstbestimmt zu leben?

Als Bürger mit einer sichtbaren Behinderung (das ist wichtig) beobachte ich, wie sehr sich die Menschen gegenseitig ausgrenzen. Ausgrenzung ist vermutlich ein bequemer Mechanismus für die Menschen, es ist ihr Standardmodus, den sie aus Trägheit einschalten. Inklusion hingegen erfordert entweder starke Werte, die, seien wir ehrlich, nur wenige von uns besitzen. Das heißt, eine Kampfbereitschaft, die, wenn wir weiterhin ehrlich sind, Überwindung braucht, um vom Konzept – Überprüfung unserer Identität – zur Tat zu schreiten.

Drei notwendige Schritte zur Selbstbestimmung

Erstens, anstatt Selbstbestimmung als typischen Wert oder Wunsch der Welt der Behinderung zu denken, sollten wir aufhören, von einer speziellen Welt zu sprechen und sie zu einem speziellen Teil der Bevölkerung zu machen, für dessen Inklusion man sich doch einsetzt. Vielmehr sollten wir nach dem Gemeinsamen suchen und nicht nach dem Trennenden, dem Speziellen. Viele Menschen, die sich für ihre eigene Selbstbestimmung einsetzen, fordern sie auch für andere ein. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass dieser Grundwert den Menschen mit Behinderungen zusteht. Doch meine Befürchtung und mein Gefühl sagt mir, dass es eine zurückhaltende wohlwollende, misstrauische Empathie ist, die die vermeintlichen Identitätsgrenzen nicht durcheinanderbringen soll. Es ist keine Knechtung, dieses Wort würde ich nicht gebrauchen; doch die Frage stellt sich auch gegenüber anderen Minderheiten. Was bin ich bereit aufzugeben für die Emanzipation meines Mitmenschen? Bin ich bereit, den Reichtum neu zu verteilen, meine Vorstellungen von einer Andersartigkeit namens «Behinderung» zu überdenken – und damit meine eigene Identität, wenn ich mich als «gesund» bezeichne? Grenzen zu verschieben bedeutet, Selbstbestimmung als ein gemeinsames Gut zu betrachten, das uns gegenseitig bereichert, anstatt durch einen obskuren persönlichen Reichtum.

Der zweite Schritt besteht natürlich darin, sich auf eine strenge Definition zu einigen. Für mich ist Selbstbestimmung gleichbedeutend mit der Möglichkeit zu wählen, Entscheidungen zu treffen, die guten oder schlechten Folgen zu tragen und aus Fehlern zu lernen. Letztlich bedeutet Selbstbestimmung, Verantwortung zu übernehmen und Risiken einzugehen, um ein voll und ganz lebendiger Mensch zu sein. Dies setzt voraus, dass man die Wahl hat zwischen verschiedenen realistischen Optionen,  einem die nötigen Informationen zur Verfügung stehen, und dass man auch mal Fehler machen kann. Selbstbestimmung heisst beispielsweise die Wohnsituation wählen zu können, aber auch die Freunde, die Freizeit, für was man sein Geld ausgibt usw. Die Definition der Selbstbestimmung muss intellektuell ehrlich und damit realistisch sein. Zu viele Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, können ihre Wohnsituation nicht wählen, auch wenn das Gegenteil behauptet wird. Weiteres Beispiel: Die Verordnungsverfügungen des Bundes über die sogenannte autonome Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel: Darin sind so stark geneigte Rampen zugelassen, dass sie für die Mehrheit der Rollstuhlfahrer nicht geeignet sind, sondern eher für Paratriathleten mit Ironman-Kräften. Wenn Selbstbestimmung nur einer Elite gewährt wird, macht sie keinen Sinn.

Der letzte Schritt, ohne den die anderen beiden nutzlos sind, ist die praktische Umsetzung. Grobe Diskriminierungen müssen bekämpft und Programme entwickelt werden, die die Wahlmöglichkeiten wirklich fördern. Genauer gesagt, die Möglichkeit, sein Potenzial maximal auszuschöpfen, wie immer auch Geist, Seele und Körper gestaltet sind. So können alle, unabhängig von ihren Behinderungen, ihre Selbstbestimmung entfalten. Der einzige Unterschied für Menschen mit Behinderungen besteht darin, dass die Mitmenschen manchmal diesem Zugang Grenzen setzen. Tatsächlich sind es oft Menschen ohne Behinderungen, die mit ihren Werten und Handlungen einen entscheidenden Einfluss darauf haben, ob jemand mit einer Behinderung selbstbestimmt leben kann oder nicht. Schliesslich noch ein Wort zu den Angehörigen- und Betroffenenvereinen. Sie sind wichtig, denn auch dank ihnen finden die spezifischen Bedürfnisse Gehör, aus denen Lehren gezogen und innovative Lösungen gefunden werden zur Förderung der Selbstbestimmung.

Fragen, die nicht verschwiegen werden dürfen, und eine offensichtliche Gewissheit

Einige grundlegende Fragen sollten wir uns immer vor Augen halten, unabhängig davon, welche Politik verfolgt wird, ob auf breiter Ebene oder lokal, und welche Maßnahmen zu ihrer Umsetzung ergriffen wurden: Ist es richtig, die Selbstbestimmung des Individuums zu stärken? Diktatoren werden dies verneinen, darum antworten wir mit einem überzeugten Ja. Wozu braucht es eigentlich Selbstbestimmung? Ist Selbstbestimmung aus moralischer, politischer, wirtschaftlicher oder soziokultureller Sicht sinnvoll? Sollen wir Mittel, insbesondere finanzielle Mittel und beträchtliche Energie dafür bereitstellen, dass jeder Mensch die Wahlfreiheit und ein maximales Entscheidungspotenzial hat? Ich denke, dass es dieses Potenzial zum Leben braucht. Wenn man es nicht ausschöpfen kann, bleibt man im Leben ein freudloser Zaungast. Selbstbestimmtes Leben ist gleichbedeutend mit Leben, dazwischen gibt es nichts.

Sébastien Kessler

Im Oktober 2019 

 

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Letzte Änderung 08.10.2019

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