Urs Germann

Urs Germann

Urs Germann ist Historiker und leitet seit 2014 die Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern. 


 

Foto: Beatrice Hildbrand

 
 
 

Was heisst für mich selbstbestimmt leben?

Selbstbestimmt leben, ist ein Grundrecht in einer demokratischen Gesellschaft. Selbstbestimmt leben heisst wählen, wo und mit wem man wohnen, welche berufliche Laufbahn man einschlagen, wie man den Tagesablauf und die Freizeit gestalten will. Selbstbestimmung heisst auch, politisch mitreden zu können. Was dies konkret bedeutet, ist immer von der Entwicklung und vom Wohlstand einer Gesellschaft abhängig. Entscheidend ist, dass Menschen mit Behinderungen gleiche Wahlmöglichkeiten haben wie die anderen Mitglieder der Gesellschaft. Damit dies möglich ist, müssen je nach Situation unterschiedliche Bedingungen erfüllt sein.

Was bedeutet Selbstbestimmung für mich als 46jähriger Mann mit einer Hörbehinderung, der lautsprachlich aufgewachsen ist und zwei Cochlea-Implantate trägt? Ich kann meine täglichen Grundbedürfnisse allein abdecken. Ich kann selbständig wohnen und mich ungehindert bewegen. Selbständig leben, heisst für mich vor allem, ohne fremde Hilfe und ohne Barrieren kommunizieren zu können: ohne Verständigungsschwierigkeiten mit Freunden oder Arbeitskolleginnen zu diskutieren oder einem Vortrag zu folgen, mit dem Telefon einen Tisch im Restaurant zu bestellen, im Zug Störungsmeldungen auf dem Bildschirm zu lesen oder einen Film mit Untertiteln zu sehen. Damit dies möglich ist, brauche ich Hilfsmittel, die eine optimale (und nicht nur minimale) Verständigung erlauben, ein ruhiges Umfeld, möglichst viele Informationen in schriftlicher Form – und manchmal etwas mehr Zeit, um nachzufragen oder etwas zu verstehen. Das Zwei-Sinne-Prinzip ist eine wichtige Voraussetzung, damit die Kommunikation im Alltag gelingt.

Selbstständig leben bedingt für mich aber noch mehr. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass Menschen mit Behinderungen eine Ausbildung wählen können, die ihren Fähigkeiten entspricht und ihnen erlaubt, den Lebensunterhalt zu verdienen. Nötig dafür sind der chancengleiche Zugang zum Arbeitsmarkt und eine gerechte Entlohnung. Aus eigener Erfahrung weiss ich: jedermann kommt einmal in eine Situation, wo sie oder er die Stelle, den Beruf oder den Wohnort wechseln möchte. Chancen packen, heisst vertretbare Risiken eingehen. Wie die meisten Menschen mit Behinderungen übernehme ich gern Verantwortung für mein Leben, wenn ich weiss, dass mir meine Beeinträchtigung nicht zum Nachteil gereicht. 

Urs Germann, Januar 2019 

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Letzte Änderung 03.10.2019

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