Die Anerkennung der eigenen Behinderung als Wendepunkt

Ein Gespräch über psychische Behinderungen, kaputte Brillen und das bedingungslose Grundeinkommen.

Das Foto zeigt einen Mann mit einem Cowboyhut in einer Herde von Kühen.

Matthias* ist 32 und lebt mit der Diagnose «emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ». Er erzählt von seinem Alltag mit Kühen, dem Kampf mit der IV und dem langen Weg zur Selbstakzeptanz.

«Viele Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben ein Problem damit, sich als behindert zu betrachten», sagt Matthias gleich zu Beginn des Gesprächs. Darum sei er motiviert gewesen, beim Interview mitzumachen. Für ihn sei die Anerkennung der eigenen Behinderung nämlich ein Wendepunkt im Leben gewesen. Ein Wendepunkt, der hart erkämpft wurde und von dem er, als er das erste Mal mit Psychiatrien oder der IV zu tun hatte, noch weit entfernt war. Damals, vor 10 Jahren, war Matthias Anfang zwanzig. «Mein Traum war es immer, die Ausbildung zum biomedizinischen Analytiker zu machen und anschliessend Biotechnologie zu studieren. Schon während der Fachmittelschule zeigte sich aber ein Problem: Ich musste hundertprozentige Praktika absolvieren in einem Job, in dem man viel Verantwortung hat, sich stark konzentrieren und verlässlich sein muss. Das sind Dinge, die ich nicht erfüllen konnte. Das wusste ich eigentlich schon damals, eingestehen konnte ich es mir aber nicht. Auch nicht, als meine Vorgesetzte sagte, dass es so nicht mehr funktioniere. In dieser Zeit brach alles zusammen».

Alles wie jeder Mensch – einfach extremer

Die Symptome, die bereits seit der Kindheit da waren und die der eigentliche Grund für die Konzentrationsschwierigkeiten und die Unzuverlässigkeit im Berufsleben waren, schwollen an: Starke Stimmungsschwankungen, selbstgefährdende Verhaltensweisen, erschwerte Impulskontrolle, niedrige Stresstoleranz, extreme Verhaltensäusserungen. «Es ist schwierig zu erklären. Grundsätzlich habe ich nichts, was nicht alle Menschen auf irgendeine Art kennen. Bei mir ist einfach alles intensiver, extremer. Jeder Mensch hat Ängste und ist ab und zu unzufrieden. Bei mir äussert es sich aber so, dass ich zwei bis vier Wochen zutiefst depressiv bin, es nicht aus dem Haus schaffe, Suizidgedanken habe. Dann plötzlich bin ich fast manisch, übertreibe, will’s mir richtig geben.»

Am stärksten zeigt sich Matthias’ Beeinträchtigung aber in seinen Beziehungen: «Mein Hirn interpretiert Dinge anders. Es ist nicht so, dass ich Dinge sehe, die nicht da sind, aber wenn es mir schlecht geht, beziehe ich alles extrem auf mich. Ich verliere mein Gefühl für zwischenmenschliche Grenzen, weiss nicht mehr, wieviel Raum ich einnehmen darf. Geht es mir schlecht und jemand kritisiert mich konstruktiv, hör’ und fühl’ ich automatisch: ’Du machst das falsch, du bist falsch, du bist nichts wert‘. Und dann reagiere ich entsprechend, beleidige zurück oder geh weg. Das macht Beziehungen schwierig und anstrengend. Und man ist eigentlich ständig in Beziehungen: Beim Arbeiten, Wohnen, in Freundschaften, überall».

Das B-Wort

Erst Jahre später fand Matthias heraus, dass das alles typische Symptome für seine Diagnose sind. «Laut ICD-10 habe ich eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ». Wie bei vielen psychischen Krankheiten wird angenommen, dass diese aus einem Zusammenspiel von genetischer Anlage und belastenden Erfahrungen entsteht. Umgangssprachlich nennt man Matthias’ Diagnose auch «Borderline». Ein Begriff, mit dem er sehr vorsichtig umgeht. «Bei Borderline denken alle sofort: ‘Ah, das sind die, die sich ritzen’» Er hält inne und lacht. «Das mach ich auch! Aber das Ganze ist komplizierter, geht tiefer. Menschen mit «Borderline» werden stigmatisiert. Ein weit verbreitetes Vorurteil ist, dass wir mühsam, unkooperativ oder manipulativ sind. Studien zeigen immer wieder, dass auch Ärztinnen und Ärzte nicht vor diesem Vorurteil gefeit sind. Das erschwert oft den Zugang zu benötigten Unterstützungsangeboten.»

Das Innere preisgeben, damit man Unterstützung verdient

Bei Matthias waren es paradoxerweise gerade seine Symptome, die ihn durch das Unterstützungsnetz fallen liessen: «Als ich mit 23 das erste Mal in meinem Leben in der Psychiatrie sass, glaubte ich immer noch, dass ich mit 26 meinen Master machen würde. Als Wiedereingliederung wurde ich in eine Behindertenwerkstatt geschickt und musste den ganzen Tag Sticker auf Gläser kleben. Kannst du dir vorstellen, wie frustriert und wütend ich war? Mir dämmerte, dass ich unter diesen Bedingungen nicht im Stande sein könnte, meinen Traum zu erfüllen und als einzige Alternative gab es ein Beschäftigungsangebot, das mich komplett unterforderte.» Diese Unterforderung gepaart mit der Hoffnungslosigkeit und Matthias Symptomen machten den IV-Prozess schwierig. Er schickte Briefe in depressiven Episoden nicht rechtzeitig zurück, wirkte damit unkooperativ und konnte in den Gesprächen mit den Gutachtern nicht überzeugend darstellen, wie es ihm wirklich ging. «Ich selbst konnte meine Beeinträchtigung zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht akzeptieren. Logisch war ich nicht im Stande, mein Inneres vor einer fremden Person auszubreiten. Das hätte ja bedeutet, dass ich mir selbst hätte eingestehen müssen, dass ich meine Träume vielleicht nie erfüllen kann, ich wirklich eine Einschränkung habe, ich tatsächlich ernsthaft psychisch krank bin. Dazu war ich damals noch nicht im Stande».

Dementsprechend war die IV-Entscheidung negativ: «Der Begutachter meinte, meine Persönlichkeitsstörung sei lediglich akzentuiert.» Das hiess: Matthias gehe es gerade ein bisschen zu gut, um eine IV-Rente zu erhalten.

In den kommenden Jahren versuchte Matthias immer wieder Ausbildungen durchzuhalten und scheitert an seinen Symptomen. Er muss sich eingestehen, dass er nicht arbeiten kann, bezog Geld vom Sozialamt, lebte insgesamt zweieinhalb Jahren in Psychiatrien, machte diverse Therapien, entwickelte gefährliche Suchtkrankheiten, stand immer mal wieder am Abgrund. Jahrelang.

Kühe bieten Stabilität

Nach seinem letzten Psychiatrieaufenthalt bot sich dann aber glücklicherweise eine Anschlusslösung: «Ich war in der Klinik Selhofen. Diese arbeiten eng mit Terra Vecchia zusammen. Das ist eine Stiftung, die unter anderem Familienplätze an Menschen in schwierigen Lebenssituationen vermittelt. Ich lebe und arbeite nun bei einer Familie auf einem Bauernhof mit Milchkühen. Dort bin ich sehr wohl und sehr zufrieden und konnte mich in den letzten zwei Jahren gut stabilisieren». Matthias mistet da den Stall, hilft beim Melken und kümmert sich um die Kühe. Durch die so erarbeitete Stabilität eröffnete sich für ihn eine neue Perspektive und neue Träume: «Inzwischen kann ich anerkennen, dass meine Vorstellungen vom Traumjob als Biotechnologe absolut nichts mit der Realität zu tun haben. Und das ist ok. Was ich mir jetzt wünsche, ist, ein so selbstständiges Leben wie möglich zu führen. Vielleicht einmal einen eigenen Haushalt haben, wieder selbstständig kochen können, einen Ort haben, an den ich Freunde einladen kann. Und weiter auf dem Hof mit Kühen zu arbeiten, das ist jetzt mein Plan.

Immer noch Luft nach oben

Matthias sagt, er sei sehr froh, dass er die Möglichkeit des Familienplatzes habe. Er schätzt sich auch glücklich, in einem Land mit grossem Wohlstand zu leben, in dem es ebenfalls viele nicht-staatliche Unterstützungsangebote gibt. Auch sei die öffentliche Diskussion über psychische Behinderungen und Erkrankungen in den letzten Jahren immer lauter geworden, die IV-Vergabepraxis in den Medien aufgegriffen worden.

Dennoch: Matthias spürt viele Barrieren in seinem Alltag. «Einerseits ist da eine finanzielle Barriere. Ich lebe vom Sozialamt. Und wenn du vom Sozialamt lebst, dann lebst du am Existenzminimum. Ein Beispiel: Meine Brille war lange kaputt. Doch mein Sozialarbeiter sagte, dass sie doch noch gut genug funktioniere, weil ich sie mit Klebband geflickt habe. Weisst du, was man mit einer Klebbandbrille für einen Eindruck macht? Keinen guten!» Er lacht. «Zum Glück bin ich ein Punk!».

Was sonst noch besser laufen müsste? «Es gibt viel zu wenig Angebote zwischen dem ersten und dem zweiten Arbeitsmarkt. Jobs, die weder den Druck des ersten Arbeitsmarkts noch die Unterforderung des Zweiten haben. Für bestimmte Menschen ist es vielleicht voll ok, Sticker auf Gläser zu kleben, aber es müsste einfach mehr Möglichkeiten geben. Jobs, die nicht im ersten, sondern vielleicht am ersten Arbeitsmarkt sind. So wie da, wo ich jetzt arbeite: Ich habe dank der Finanzierung durch Terra Vecchia die Möglichkeit, nicht immer funktionieren zu müssen. Und mein Chef wird entlastet: Wäre ich normal angestellt und würde morgens nicht auftauchen, weil es mir sehr schlecht geht, wäre er aufgeschmissen. Klar würde er mich so nicht anstellen wollen. Weil er aber für das Bereitstellen des Familienplatzes Geld erhält, wird dieses Risiko ausgeglichen. Und ich bin da, arbeite mit Menschen aus dem ersten Arbeitsmarkt zusammen, mache Berufserfahrungen, stelle ein Produkt her, dessen Sinn ich verstehe. So kann ich stabiler werden, vielleicht einmal die Ausbildung als landwirtschaftliche Hilfskraft absolvieren».

Barrieren überwinden durch ein bedingungsloses Grundeinkommen!

Ich frage Matthias, wie die von ihm erlebten Barrieren überwunden werden könnten. Es schiesst aus ihm heraus: «Ein bedingungsloses Grundeinkommen! Und gar nicht unbedingt für mich – ich habe das ja schon auf eine Art – sondern für alle, die momentan dem Druck des ersten Arbeitsmarktes ausgeliefert sind. Wenn nämlich der Leistungsdruck gesenkt wird, es für KMUs nicht ständig ums nackte Überleben geht, dann wird auch die Bereitschaft wachsen, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die vielleicht weniger leistungsfähig sind. Das würde so viel verändern. Wenn einfach klar wäre, dass die Existenz eines Menschen als Bedingung genügt, damit er sicher und gut leben kann». Er hält inne und lacht: «Und für mich würde es vielleicht bedeuten, dass ich selbst entscheiden kann, ob ich eine neue Brille brauche». Nach einer Weile ergänzt Matthias: «Ich glaube, was es auch braucht, wäre eine Person, die alle Beteiligten miteinander verbindet. Jemand, der sich für den Menschen mit Behinderungen einsetzt und ein Bindungsglied ist zwischen Betroffenen, Arbeitgeber, Ärzten und dem Sozialstaat. Jemanden, der zum Beispiel Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, wie ich es Anfang zwanzig war, bei diesen ganzen Prozessen unterstützt. Und man müsste noch mehr über psychische Erkrankungen sprechen, die Scham abbauen. Eine Diskussion darüber führen, warum so viele Menschen mit psychischen Einschränkungen zögern, sich als «Mensch mit Behinderung» zu bezeichnen. Ich nehme an, das hängt damit zusammen, dass das Wort immer noch einen negativen Beigeschmack hat. Als Kinder beleidigten wir einander, indem wir fragten: ’Bist du behindert?’. Heute aber hilft mir dieses Wort, meine eigene Erfahrung besser zu verstehen. Dabei geholfen hat mir auch der Pro Infirmis Spruch! Ich sagte mir: Ja, ich habe eine Beeinträchtigung, das stimmt. Aber ich lasse mich nicht behindern. Darum werde ich weitermachen, eine Neubeurteilung bei der IV anstreben, diesmal nicht allein, sondern mit Procap und meiner Psychologin, es weiter versuchen, weiterkämpfen!»»

*Name geändert

Artikel und Interview von Annika Zemp, Hochschulpraktikantin EBGB. Das Interview wurde im Januar 2022 geführt.

Foto: www.istockphoto.com

 

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Letzte Änderung 16.05.2022

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