Die Geräusche des Windes

Ein Gespräch über Sprachen, Barrieren und Teilhabe

Foto von Sibylle Rau. Das Foto sieht aus wie eine Kunst-Collage. Im linken Teil des Bildes ist Frau Rau zu sehen. Sie steht, lächelt und hält ihre rechte Hand ans Kinn. Sie wirkt nachdenkend. Im Hintergrund ist in Gelbtönen eine Wand zu sehen mit verschiedenen gezeichneten Bildern und Schriftzügen. Unter anderem einen Mann mit Krawatte sowie einzelne Textfragemente, wie zum Beispiel «eine», «es» oder «ja». Zusätzlich ist ein Bild eines Mädchens mit weissem Hintergrund und einem Helm zu sehen.
Sibylle Rau

Sibylle Rau ist Visuelle Gestalterin, 56 Jahre alt und seit Geburt gehörlos. Sie ist lautsprachlich aufgewachsen, lernte die Gebärdensprache erst später und erzählt über das Leben in zwei Welten.

Frau Rau berichtet von ihren Ferien in Cape Cod / USA im Jahr 2011. Sie übernachtete in einem Bootshaus, als in der Nacht der Hurrikan Irene tobte.

«Ich habe den Hurrikan nicht gehört»

Die angerichtete Verwüstung sah sie erst beim Aufwachen. «Ich traute meinen Augen nicht. Vor meinem Fenster lagen zwei zerschmetterte Jachten im Garten. Vom Getöse, Krach und Heulen des Sturms bekam ich in der Nacht nichts mit. Das verschonte mich zwar vor der Panik und Angst, aber es hätte auch anders herauskommen können.» In Notsituationen sind Gehörlose besonders gefährdet, besonders wenn die entsprechenden Alarme nur akustisch sind. «Heutzutage gibt es ja Apps, wie zum Beispiel Alertswiss, die einem über Katastrophen informiert. Das hätte ich damals gebraucht.»

Als weiteres Beispiel nennt Sibylle Rau einen Beinahe-Unfall: «Ich wurde einmal auf dem Fussgängerstreifen fast von einem Krankenwagen überfahren.» Der Wagen fuhr so schnell, dass sie ihn vor der Überquerung nicht sehen konnte. Die Sirene hat sie nicht gehört. Der Fahrer sah sie jedoch und konnte im letzten Moment ausweichen. Daneben gab es weitere Situationen, die zwar nicht gefährlich, aber mühsam waren. «Es ist mir im öffentlichen Verkehr schon ein paar Mal passiert, dass ich Ansagen über Änderungen nicht mitbekam. So sass ich zum Beispiel im Tram und plötzlich hat es anscheinend geheissen: Alle aussteigen. Ich war vertieft in meinen Gedanken und wunderte mich plötzlich, warum das Tram nicht endlich abfuhr. Als ich mich dann umsah, bemerkte ich, dass ich inzwischen die Einzige im Tram war.»

Bildung: «Ja, da müsste noch einiges gemacht werden»

Die obligatorische Schulzeit verbrachte Frau Rau in einer Schule für gehörlose Kinder. «Damals war die Gebärdensprache noch verboten. Auch in den Pausen wurden die Kinder bestraft, wenn sie gebärdeten.»  Es hat sich in der Zwischenzeit einiges verändert. «Aber als ich jung war, wollte ich eigentlich die Matura machen. Es gab noch keine Gebärdensprachdolmetschenden. Die Dienstleistung der Gebärdensprachdolmetschung gibt es erst seit 1985. Also absolvierte ich eine Lehre.» Obwohl Frau Rau damals die Gebärdensprache noch nicht so gut beherrschte, wäre sie auf diese angewiesen gewesen. «Die Gebärdensprachdolmetscher gebärden nicht nur, sondern sie bewegen ihre Lippen auch. Ich habe sie oft im Voraus gebeten, tonlos das Gesagte über die Lippen wiederzugeben, so gut sie können. Für mich wären Schriftdolmetscher ideal gewesen. Aber solche gab es damals ja auch noch nicht.»

Die Berufsschule und auch später die Kunstgewerbeschule absolvierte Frau Rau ohne Gebärdensprachdolmetscher. «Ich sass jeweils ganz vorne, musste mich aber immer durchsetzen und dafür kämpfen, dass die Lehrpersonen oder Professoren Hochdeutsch sprechen und nicht im Raum herumwandern, damit ich von den Lippen ablesen konnte.» Das war nicht optimal. Denn: «Erst die Möglichkeit, Gebärdensprachdolmetscher zur Seite zu haben, ermöglicht eine volle Bildung oder auch die Teilhabe in einem Arbeitsteam. Auch bei Teamsitzungen oder bei sonstigen Meetings können wir Gehörlose die Diskussionen der anderen nur mit Gebärdensprachdolmetschenden mitverfolgen und ebenfalls mitreden.» Sie betont wie wichtig es sei, über das Thema Gehörlosigkeit aufzuklären. «Wir erhalten wichtige News nicht einfach so nebenbei, z.B. bei Gesprächen im Gang. Es braucht den Willen der Mitarbeitenden und Chefs, uns bilateral oder schriftlich zu informieren.»

Spontanität sei ein anderes Thema. «Wenn ich einen Kurs ausgeschrieben sehe, kostet mich die Organisation immer einen Extra-Aufwand. Die Kursleiter müssen bereit sein, einen Gebärdensprach- oder Schriftdolmetscher zuzulassen und die Lichtverhältnisse anzupassen.» Eine Weiterbildung in einem abgedunkelten Raum, wo mit Beamer an die Wand projiziert wird, ist ungünstig. Da ist Lippenlesen nicht mehr möglich. «Ich hatte schon mal erlebt, dass der Leiter bei einem Weiterbildungskurs nicht bereit war, die Lichtverhältnisse anzupassen. Also konnte ich schlecht Lippenlesen oder die Gebärden der Dolmetscherin sehen, die ich extra dafür organisiert hatte. Das war frustrierend für mich.»

Lautsprache und Gebärdensprache

Frau Rau wuchs vorwiegend unter Hörenden auf. So ist auch die Lautsprache ihre Mutter- bzw. Erstsprache. Die Gebärdensprache lernte sie erst im Erwachsenenalter. Aus diesem Grund wurde sie früher von Gehörlosen selbst nicht als «echte» Gehörlose akzeptiert. «Die Fronten waren einst härter als heute. Heute ist die Akzeptanz vorhanden, ob eine gehörlose Person nur lautsprachlich kommuniziert, in Gebärdensprache oder in beiden Sprachen.»

Durch die lautsprachliche Erziehung spricht Frau Rau so gewandt, dass ihre Gehörlosigkeit oft im ersten Moment nicht bemerkt wurde. Sie tritt selbstbewusst in Kontakt mit Hörenden und erzählt von einem Beispiel aus ihrer Kindheit und Jugend. «Ich habe des Öfteren für meine hörende Freundin gesprochen. Sie war schüchtern und traute sich nicht fremde Leute anzusprechen. Wenn wir zusammen unterwegs waren, sprach also ich Passanten an, um nach der Uhrzeit oder was anderem zu fragen.» Auch im Erwachsenenalter gab es Gegebenheiten, wo beinahe vergessen ging, dass sie gehörlos ist. «Ich nahm zum Beispiel an einem Event teil, wo ich mich rege in Lautsprache und in Gebärdensprache austauschte. Danach wurde ich angefragt, ob ich als Gebärdensprachdolmetscherin an ihre Anlässe kommen könnte. Ich musste einerseits schmunzeln, aber auch den Kopf schütteln.» Laut Frau Rau, war dies Unwissenheit. Es gab auch ärgerliche Situationen, die mit Ignoranz zu tun hatten. «Erst kürzlich, bei der Anmeldung im Impfzentrum, weigerte sich die Person am Schalter trotz der vorhandenen Trennscheibe die Maske abzunehmen. Obwohl ich ihr erklärte, dass ich sonst nicht von den Lippen ablesen kann. Das Ganze endete damit, dass ich entnervt einen anderen Schalter aufsuchen musste.»

Geräusche des Windes

Frau Rau erzählt, dass sie ausser den erwähnten Ausnahmen jedoch kaum Probleme mit ihrer Hörbehinderung hat. «Es gibt aber Momente, selten zwar, wo ich sie verfluche. Ich vermisse als kommunikativer Mensch die Unbeschwertheit und Spontanität in Gesprächen mit Hörenden einzusteigen, teilnehmen und einfach mitreden zu können.» Zudem würde sie sehr gerne einmal erleben, was es heisst, hören zu können. «All die Geräusche des Windes, eines Vogels oder eines Lieblingssongs. Damit ich einmal in die hörende Welt meiner nahestehenden Personen eintauchen und diese fühlen könnte.»

Behindert werden

«Ich fühle mich nicht behindert. Ich habe mein Leben, das ich kenne und ich kenne es nicht anders.» Aber sie spricht auch die Barrieren an: «Wir kämpfen jeden Tag mit Barrieren, die uns die Teilhabe an der Gesellschaft erschweren oder ganz verhindern. Erst das gibt mir das Gefühl, behindert zu werden.» In diesem Zusammenhang betont Frau Rau die Wichtigkeit der Teilhabe an der Gesellschaft. «Sie ist noch nicht inklusiv. Es muss mehr für den Zugang zu Bildung, Arbeit, Gesundheitsvorsorge und Freizeit sowie auch im digitalen Raum getan werden.»

 

Artikel und Interview: Jasmin Cahannes, EBGB. Das Interview wurde im Oktober 2021 schriftlich auf Deutsch geführt.

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Letzte Änderung 21.12.2021

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