Gleichstellung ist, wenn sie selbstverständlich ist

Ein Gespräch über gesellschaftliche Wahrnehmung, Respekt und fehlende, diskrete oder aufgezwungene Unterstützung.

Das Foto zeigt Fabienne Weiss. Sie trägt eine Kurzhaarfrisur und ist mit einem schwarzen Jacket über einer beigen Bluse elegant gekleidet.

Fabienne Weiss ist 43 Jahre alt und Molekularbiologin. Sie hat eine Körpergrösse von 120cm. Wenn etwas zu hoch ist, braucht sie Unterstützung. Ansonsten lebt sie ohne Barrieren – wenn da nicht die Gesellschaft manchmal «irgendwie ein Problem haben würde».

Als Fabienne Weiss zur Welt kam, veranlassten die Ärzte ein Röntgen ihrer Knochen. Ihre 6 Jahre ältere Schwester war nicht wie die anderen gleichaltrigen Kinder gewachsen und durchlief bereits alle gängigen medizinischen Abklärungen. Auch bei Fabienne bestätigte sich der Verdacht: Sie wird später nicht der durchschnittlichen Normgrösse in unserer Gesellschaft entsprechen.

Die Sache mit der Diagnose

Fabienne erhielt im Kindesalter die Diagnose «Achondroplasie», das ist die häufigste Form von Mikrosomie (Körpergrösse unter 150cm bei Männern und unter 140cm bei Frauen). Die Ärzte diagnostizieren was sie kennen: «Damals war die Medizin und die Forschung noch nicht so weit und es waren noch nicht alle Formen von Mikrosomie bekannt.» Später als Erwachsene erhielt sie den Begriff «Spondyloepiphysäre Dysplasie» als Bezeichnung ihrer Körpergrösse. Inzwischen hat Fabienne ihre vierte, nun aber mittels genetischer Untersuchung die richtige Diagnose erhalten. Der Weg dorthin war nicht ganz einfach.

Es begann mit einem Arztbesuch wegen Rückenschmerzen. Der behandelnde Arzt veranlasste ein Röntgenbild der Wirbelsäule. «Der kam dann zu mir und sagte, er wisse, was ich habe und knallte mir die Diagnose «Mukopolysaccharidose» an den Kopf. Ich bin Molekularbiologin und Dozentin im medizinischen Bereich. Ich wusste, was das bedeutet.» Fabienne Weiss war damals 34 Jahre alt, eine «Mukopolysaccharidose» hätte eine Lebenserwartung von etwa 36 Jahren bedeutet. Entsprechend gross war der Schock. Doch das Vorwissen durch ihren Beruf liess sie zweifeln. «Ich dachte mir einfach, das kann nicht stimmen. Das passt nicht mit meinen Beschwerden überein. Und ich wollte es auch einfach wissen. Immerhin unterrichtete ich damals Pathologie. Wenn mich meine Studierenden fragen würden, was ich habe, da will ich genau Auskunft geben können.» Sie begann zu forschen und suchte entsprechende Ärzte auf. Durch die Teilnahme an einem Forschungsprogramm erhielt sie dann drei Monate später ihre richtige Diagnose: «Acromesomele Dysplasie Typ Maroteaux». «Meine Behinderung ist von aussen gesehen nur meine Körpergrösse. Ich habe sonst nichts. Es ist schon auch spannend, ich habe auch keine oder sehr wenig Gelenkprobleme. Auch wenn die Gelenke optisch nicht der Norm entsprechen, sind sie voll funktionsfähig. Ich gehe auch oft wandern. Vielleicht habe ich auch dadurch meine Muskulatur so gut aufgebaut, dass ich von möglichen Gelenkproblemen verschont blieb.»


Die Ausdauer beim Wandern und nein: «Ich bin keine Sekretärin»

Fabienne Weiss erzählt von Situationen, in denen sie unterschätzt wird. Ein Beispiel von einer Wanderung «Ich kam zum Startpunkt. Ich bemerkte die Blicke, als ob sie dachten, dass ich sowieso nicht mithalten könne. Meine Stärke ist die Ausdauer. Ich gehe mein Tempo, das aber stetig und lange. Ich war gemütlich unterwegs. Doch als ich nach drei Stunden die zu Beginn der Wanderung zügig gestarteten Personen wieder aufgeholt habe und das recht fit, sagte mir einer, der total erschöpft am Boden sass: «Wissen Sie, ich habe Knieprobleme, deshalb bin ich heute langsamer als sonst». Da musste ich schon etwas schmunzeln. Als würde er sich schämen, dass ich ebenso gut mithalte, wie er.» Ein weiteres Beispiel sei ihr Beruf: «Wenn mich jemand fragt, was ich so mache, sind sie irgendwie erstaunt, dass ich arbeite und dann vermuten sie als erstes, dass ich sicher Sekretärin wäre. Ich weiss wirklich nicht, warum das so ist, aber das passiert ab und zu. Irgendwie unterschätzen die Leute mich einfach oder fühlen sich aufgrund ihrer Körpergrösse überlegen».

Australien und das Gefühl gleichwertig zu sein

«Natürlich brauche ich manchmal Hilfe.» Geldautomaten, Schalter und Kassen beim Self-Checkout sind oft zu hoch. «Als ich zum Beispiel am Bahnhof war, gab es dort zwar einen extra tiefen Schalter. Aber der war nicht bedient. Also musste ich trotzdem jemanden rufen, der mir hilft.» Priorität wäre natürlich, dass es keine solchen Barrieren mehr gäbe. «Wenn ich offensichtlich vor einem Problem stehe, da wünsche ich mir eine unauffällige, diskrete Unterstützung.» Auf die Frage, was das wäre, antwortete sie: «Einfach Unterstützung anbieten, ohne grosses Trara zu machen. So als wäre es selbstverständlich.» Sie erzählt von ihrer Australienreise und dass sie dort das Gefühl hatte, gleichwertig behandelt zu werden. «Als ich dort mit einem riesigen Koffer auf den Bus wartete, sah der Chauffeur mich. Es war offensichtlich, dass ich den grossen Koffer unmöglich alleine in den Bus hieven konnte und auch der Einstieg für mich zu hoch war. Ohne zu zögern, fuhr er die Rampe aus für einen auch für sie gut möglichen Buseinstieg. Oder beim Einkaufen wurde mir von einem Ladenangestellten Unterstützung beim Self-Checkout angeboten. Das ist für mich auch Gleichstellung, wenn ich mich nicht gross erklären muss und mir einfach diskret Hilfe angeboten wird, wo sie nötig ist.» Sie hat auch schon andere Erfahrung gemacht. «Ich weiss wirklich nicht, was das Problem ist. Vielleicht haben wir Schweizerinnen und Schweizer auch Hemmungen zu fragen, ob man Hilfe benötigt oder sie wird einem ohne zu fragen aufgezwungen.»

Die Gratwanderungen zwischen aufgezwungener Hilfe, angebrachter Unterstützung und echter Gleichstellung

So habe ihr im Coop an der Kasse einfach eine fremde Frau ihren Rucksack förmlich aus der Hand gerissen, ihre Einkäufe von der Theke genommen, eingepackt und ihr den Rucksack mit den Worten retour gegeben: «So, nun habe ich Ihnen geholfen.». Fabienne Weiss war so perplex und konnte in diesem Moment gar nicht reagieren. Die Frau ging wortlos. «Das geht natürlich gar nicht. Ich kann meinen Rucksack selbst packen. Mir fehlten aber die Worte und ich war nur wütend und enttäuscht.» Im gleichen Zug erzählt Fabienne Weiss dann aber von einem gegenteiligen Beispiel. Sie war geschäftlich zu einem Meeting eingeladen. In der Empfangshalle stand ein Telefon, mit dem sie sich hätte anmelden müssen. Das Telefon war zu hoch angebracht. Also rief sie die Geschäftspartnerin von ihrem Natel aus an, die sie dann abholen kam. «Natürlich habe ich kurz erwähnt, dass das Telefon zu hoch für mich war. Wir haben aber danach nicht weiter darüber gesprochen. Beim nächsten Treffen, schrieb ich meiner Arbeitskollegin im Voraus, ob Sie mich wieder am Empfang abholen kommen würde. Sie antwortete mir nur, dass dies nicht mehr nötig wäre. Als ich dort war, sah ich, dass das Telefon inzwischen weiter unten angebracht war. Das hat mich so beeindruckt. Das ist für mich Gleichstellung. Ohne eine grosse Sache daraus zu machen, haben sie einfach das Telefon verschoben. Das Telefon war eine Wandmontage. Die haben tatsächlich das Gerät ausbauen und weiter unten wieder einbauen müssen. Für mich ist ein solcher Umbau nicht selbstverständlich, aber ein grosses Zeichen von Anerkennung und Gleichstellung. Diese Selbstverständlichkeit mit der sie das gemacht haben, würde ich mir vermehrt wünschen.»

Spondy grüsst Darm – oder wie auch immer

Eine weitere Anekdote bringt das Thema «Identität» auf den Tisch. Fabienne Weiss erzählt, dass sie zu der Zeit, als die Diagnose «Spondyloepiphysäre Dysplasie» aktuell war, damit in einem Internetartikel mit ihrem Namen erschienen ist. Daraufhin erhielt sie via Facebook eine Privatnachricht, von jemanden mit der Begrüssungsmessage: «Hallo, ich bin auch ein Spondy». Sie schüttelt den Kopf. «Wie kann man nur? Wie kann man sich darüber identifizieren? Bevor mich jemand persönlich kennt oder nach meinem Namen, Hintergrund oder Interessen fragt, sieht er mich als «Spondy». Sie schüttelt erneut den Kopf und lacht: «Ich dachte mir dann, ob ich meinen Darm nun den seinen grüssen lassen soll.»

Am Arbeitsplatz

Im Gespräch wird ersichtlich: Fabienne Weiss identifiziert sich nicht über ihre Körpergrösse. Dass dies auch ihr Umfeld nicht macht, wird klar, als sie über ihre Arbeit spricht. «Ich doziere seit vielen Jahren an einer Fachhochschule. Sie haben dort auch ein Diversity-Management. Bis jetzt ist noch nie jemand auf mich zugekommen und hat gefragt, ob ich als sogenannt Betroffene mitmachen oder beraten möchte.» Ihrerseits hat Fabienne Weiss auch noch nie gefragt und sagt: «Das zeigt mir auch, dass sie mich nicht über meine Körpergrösse definieren, sondern mich als allererstes einfach als Fabienne Weiss, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin und Dozentin sehen. Und das ist ein tolles Gefühl.»


Artikel und Interview: Jasmin Cahannes, EBGB. Das Interview wurde im Juli 2022 auf Deutsch geführt.

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Letzte Änderung 06.09.2022

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