«Ihr denkt, euer Normal muss der Massstab für alles sein.»

Ein Gespräch über Unterstützte Kommunikation, Idiotenspeak.ch und Barrieren in den Köpfen

Schwarzweiss Nahaufnahme des Gesichts von Jaime Garcia
Jaime Garcia
Schwarzweiss Nahaufnahme des Gesichts von Christian Kaspar
Christian Kaspar

Jaime Garcia und Christian Kaspar, Ende 30 und Anfang 40 sind Blogger und Aktivisten, die unterstützte Kommunikation (UK) benutzen. Sie erzählen über diese Kommunikationsform und von ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.

«Barrieren in den Köpfen der Uneingeschränkten»

Dieses Interview fand nicht persönlich vor Ort statt, sondern schriftlich. Nicht etwa wegen Corona, sondern weil typische Interviewsituationen nicht für alle Menschen zugänglich sind. Christian Kaspar und Jaime Garcia kommunizieren mit Unterstützer Kommunikation (UK). Das bedeutet in ihrem Fall, dass sie, statt Wörter auszusprechen, eine UK-App benutzen. Darin können Wörter getippt und Symbole angeklickt werden, die dann vorgelesen werden. «Wir können alles zum Sprechen nutzen, was man antippen und als sprachliches Zeichen nutzen kann», erklärt Kaspar. Die beiden nutzen UK, weil sie sich, wie Garcia anfügt, «…auf dem Autismusspektrum befinden. Und zwar auf dem Teil, den die Diagnostik-Manuals ‘low functioning’ nennen.» Das bedeutet, dass sich ihre Körper zwar gut bewegen können, jedoch nur selten das tun, was Garcia und Kaspar wollen. Lautsprache zu benutzen, geht deshalb nicht. Dazu kommen Zwänge und Tics, die es schwierig machen, sich zu fokussieren. Deswegen dauert das Beantworten der Fragen länger. Da Jaime Garcia und Christian Kaspar auch überall da Barrieren erleben, wo man zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo physisch anwesend sein muss und sich da auf eine bestimmte Art und Weise verhalten soll, ist die «typische Interviewsituation» für sie nur mit viel Aufwand  zugänglich und mit grossem Stress verbunden . Deshalb kommunizieren wir schriftlich. «Von «Lautsprechern» wird oft die analoge Interaktion «face to face» als die beste, wertvollste Art der menschlichen Interaktion angesehen», so Garcia. Dabei können andere Formen der Kommunikation genauso wichtig, verbindend, lustig oder schön sein. Was den Austausch zwischen verschiedenen Menschen stört, ist nämlich häufig gar nicht die Kommunikationsweise, sondern die Voreingenommenheit, in den «Köpfen der Uneingeschränkten», sagt Kaspar. «Ihr denkt, euer Normal muss der Massstab für alles sein». Er fügt an: «Sobald die Menschen uns sehen, lassen sie sich in ihrem Denken und Handeln behindern. Wir werden auf unser, für sie komisches Verhalten oder unsere Diagnosen reduziert.»

Wenn die Selbstbestimmung auf die Wahl des Brotaufstriches reduziert wird

Die Reduktion von Menschen auf ihre Diagnose hat viele Folgen. Beispielsweise dann, wenn Menschen, die UK benutzen, die schulische Lernfähigkeit abgesprochen wird. «Angemessene Bildung heisst für uns dann, Schuhe binden und Klötze sortieren zu lernen. Dabei können wir gut denken und schulisch lernen. Aber versuchen Sie das mal Pädagogen oder Therapeuten klar zu machen, wenn Sie nicht sprechen können und niemand da ist, der mit Ihnen differenziert UK aufbaut», erklärt Kaspar. Neben der fehlenden Förderung fehlte es auch an angemessenen Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Verfügbare Arbeitsplätze werden grösstenteils von Einrichtungen im Behindertenbereich angeboten – welche Arbeiten da geleistet werden, sind oft vorbestimmt und die Arbeiten monoton und intellektuell wenig fordernd.

Garcia und Kaspar wurden entmündigt. Ihnen wird abgesprochen, dass sie für sich selbst entscheiden können. Lebensentscheidungen werden von Eltern, Fachleuten, Betreuenden, der IV gefällt. Die Frage, wir ihre Behinderung ihre Lebensentscheidungen beeinflusst habe, sei deshalb falsch gestellt. «Die Frage müsste lauten, welche Entscheidungen wurden und werden nicht von anderen für mich getroffen, die glauben, dies aufgrund meiner, von ihnen unterstellten, mangelnden Denkfähigkeit tun zu dürfen». Garcia lockert auf: «Sei nicht undankbar. Du darfst entscheiden, welchen Brotaufstrich du möchtest.» Und Kaspar antwortet: «Ich mag Quitte, lol».

«Wir sind Bittsteller: Das muss endlich aufhören.»

Ich möchte von den beiden wissen, was in der Schweiz in der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen bereits gut läuft und wo es noch Verbesserungspotenzial gibt.

«Die UN-BRK müsste endlich umgesetzt werden. Mit Niederflurtrams und einem theoretischen Recht auf angemessene Bildung ist es nicht getan», so Garcia. Es werde zwar mehr über Behinderungen gesprochen, sagt Kaspar, und Dinge, wie das persönliche Assistenzbudget und die Subjektfinanzierung gingen in die richtige Richtung. Aber, fragt Garcia: «Was nützt mir Subjektfinanzierung, wenn die Dienstleistungen, die ich brauchen würde, gar nicht angeboten werden?»

Es gebe beispielsweise «Wohngruppen», in denen Menschen mit Behinderungen selbstständig wohnen und sich ihre Mitbewohnenden aussuchen können. Für Garcia und Kaspar sind solche Angebote aber häufig nicht zugänglich, da es in ihnen zu wenig Assistenz gäbe und das Personal häufig nicht über die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit Menschen auf dem Autismusspektrum verfüge. «Ich möchte Wohnformen, die auf Assistenz und Dienstleistungen setzen und nicht auf Agogik und ‘wir-wissen-was-dich-normaler-macht’. Die Institutionen im Behindertenbereich bieten sowas nicht an, weil diese Fachleute das für Leute wie mich nicht für nötig halten

Das Assistenzbudget wäre eine Möglichkeit, dass Garcia als Arbeitsgeber Assistenzpersonen einstellen könnte. Aber auch hier fehlen die Unterstützungsangebote bei den administrativen Aufgaben, damit er diese Rolle einnehmen kann.

«Womit wir bei dem sind, was ich sofort ändern würde», ergänzt Kaspar. «Ein persönliches Budget für alle Menschen mit Beeinträchtigungen, auch für die mit dem Label «kognitive Beeinträchtigung». Und: «Wohnheime und Ateliers für Behinderte, wie sie jetzt sind, abschaffen.» Garcia stimmt zu: «Die Heime haben viel zu viel Macht zu bestimmen, was wir brauchen sollen, wie wir leben, was wir arbeiten. Neurotypische Fachleute bestimmen über uns. Wir sind nicht Kunden, sondern Bittsteller, das muss endlich aufhören».

Die Version ohne Filter

Garcia und Kaspar nehmen Sinnesreize viel stärker wahr als andere. Die beiden erklären: «Das ist für uns noch keine Behinderung. Wir sind einfach die Version ohne Filter. Behinderung entsteht durch die Interaktion mit der Gesellschaft, wie sie bei uns organisiert ist. Die Gesellschaft, ihre Dinge, Institutionen und Interaktionen sind nicht für Leute wie mich konstruiert. » Dabei könnte es auch anders sein: «Die Welt ohne Filter wahrzunehmen, könnte irgendeinmal ein evolutionärer Vorteil sein», so Kaspar. «Ironie off». Dennoch:  Begegnungen im digitalen Raum könnten selbstverständlicher und ein Ort der Inklusion werden. Bei Begegnungen könnte in Zukunft nicht automatisch vorausgesetzt werden, dass «face to face» der Goldstandard menschlicher Interaktion ist.

Pizza bestellen in der Idiotenspeak-WG

«Was wünscht ihr euch für die Zukunft?» Die Antwort ist klar: «Selbstbestimmt mit den anderen Jungs vom Idiotenspeak in einer Blogger-WG leben können». Idiotenspeak.ch ist eine Plattform die von Christian Kaspar, Jaime Garcia und dem dritten Redaktionsmitglied, Yannick Striebel, betrieben wird. Sie schreiben über Fragen zur Gleichstellung, Anti-Diskriminierung, Inklusion und über die eigenen Erfahrungen. «Auch andere Menschen mit Beeinträchtigungen schreiben für den Blog und wir vernetzen uns mit verschiedenen Plattformen von Behindertenaktivisten. Wir machen manchmal auch Fachreferate zu diesem Thema an Tagungen und treten mit unseren Texten auf». Gemeinsam in einer Blogger-WG zu leben hätte viele Vorteile, die in einem Wohnheim nicht gegeben sind. Kaspar führt aus: «Wir könnten zusammenwohnen und andere Mitbewohner selber wählen. Wir könnten die Schlafzimmer selbst unter uns aufteilen, das Wohnzimmer so einrichten, wie wir wollen. Wir müssten bei unserer Tagesstruktur und unserem Verhalten nur aufeinander Rücksicht nehmen und nicht dem folgen, was neurotypische Betreuer für passend halten. Wenn wir nachts was essen oder am Blog arbeiten wollen, dann könnten wir das machen, ohne Diskussionen mit Betreuern oder Androhung von Massnahmen oder psychologischen Evaluationen. Wir könnten jederzeit an PCs, Tablets, etc. und ins Internet und hätten so in Kombination mit kompetenten Assistenzen selbständig Zugang zur Gesellschaft, unseren Kontakten, Freunden, unserer Familie sowie digitalen Lern- und Infoangeboten. Wir könnten abends um 10 Pizza bestellen».

Eine Weiterbildung im Journalismus und noch mehr Zusammenarbeit mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten sind ebenfalls Dinge, die sich Garcia und Kaspar wünschen. Denn das sei die Zukunft: Eine Veränderung der Gesellschaft «von Behinderten für Behinderte, zum Nutzen aller».

 

Artikel und Interview: Annika Zemp, Hochschulpraktikantin EBGB. Das Interview wurde im Dezember 2021 schriftlich auf Deutsch geführt.

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Letzte Änderung 03.03.2022

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