Das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist schön.

Ein Gespräch über die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, dem Aufwand für die Überwindung von Barrieren und die Gewöhnung an ein Leben mit Assistenz.

Foto von Janosch Herzog. Herr Herzog trägt eine Brille und lacht in die Kamera. Zu sehen ist nur sein Oberkörper in einem blauen Pullover. Im Hintergrund sieht man Berge mit einem wolkigen Himmel.
Janosch Herzog

Janosch Herzog ist 21 Jahre alt, angehender Student für Betriebswirtschaftslehre. Er lebt mit einer spinalen Muskelatrophie Typ 3. Kurze Wege geht er zu Fuss. Etwas längere Wege fährt er mit dem Rollstuhl. Noch längere Wege mit seinem neuen Auto.

«Es gibt alltägliche Dinge, die einem normal erscheinen. Für Leute mit Einschränkungen können diese dann aber so schön sein und enorm viel bedeuten.» Die Autoprüfung war so  etwas. Ein Schlüssel zur Freiheit, wie Janosch Herzog erzählt. «Ich habe die Autoprüfung letztes Jahr gemacht und bestanden. Das war sehr toll, plötzlich so viel Freiheit zu haben. Ich kann nun hingehen wohin ich will und muss niemanden mehr fragen, ob er oder sie mich fährt.»

Die Freiheit mit dem eigenen Auto

Es wird schnell klar: Abhängigkeit und stets jemanden um Hilfe bitten zu müssen, das war und ist für Janosch Herzog zermürbend. Das Gespräch zeigt eindrücklich, wie ein junger Mensch sich mit einer Krankheit auseinandersetzt und wie prägend das auf die Entwicklung der Persönlichkeit und des Selbstbildes sein kann. «Ich hatte nach Ausbruch der Krankheit stets das Gefühl, ich falle anderen zur Last. Das wollte ich nicht». Die Bürde der Abhängigkeit war zu den bereits vorhandenen Barrieren zu gross und er hat auf Vieles verzichtet. Er hat sich als Reaktion darauf zuerst einmal zurückgezogen. In die eigenen vier Wände. Und das Gefühl gehabt, er «sei so»: jemand der nicht gerne unter Leuten wäre. Doch die neue Freiheit mit dem Auto, änderte diese Haltung. «Da merkte ich, ich bin ja gar nicht so, dass ich nur zu Hause sitzen will.» Dass er nun selbstständig unterwegs sein kann, gibt ihm ein neues Lebensgefühl. «Ich habe erst gemerkt, dass ich gerne ausgehe, seit ich das selbstständig tun kann.»

Beim Kugelstossen merkte ich, da stimmt was nicht

Die spinale Muskelatrophie ist eine angeborene Erbkrankheit. Bei Janosch Herzog ist sie etwa in der sechsten Klasse Primarschule erstmals aufgetreten. «Es war schon so, dass ich bereits als Kind viel gestolpert bin oder im Sport nicht der Schnellste war.» Lange dachten er und sein Umfeld, er wäre einfach nicht so sportlich. Aber der Sportunterricht brachte es dann ans Licht: Da kann etwas nicht stimmen. «Beim Kugelstossen im Turnen warfen die anderen Kinder ihre Kugeln etwa fünf Meter weit. Meine flog immer nur höchstens einen Meter. Da wurde offensichtlich, das ist nicht mehr zurückzuführen auf jemanden, der einfach etwas schwach im Sport ist.» Oder er hat angefangen, seinen Schulrucksack «extra zu vergessen», weil er ihm zu schwer zum Tragen wurde und nahm die gefolgten Rügen in Kauf ohne das eigentliche Problem anzusprechen. Velofahren wurde auch schwieriger. «Einmal wurde ich von einem Lastwagen fast angefahren. Ich habe ihn zwar gesehen, konnte ihm aber nicht ausweichen. Ich hatte die Kraft und die Koordination dazu nicht.» Durch solche Erlebnisse realisierte er «da ist Vieles wie es eigentlich nicht sein sollte». Er hat lange nicht alles seinem Umfeld erzählt, immer in der Hoffnung, dass dem nicht so sei.

Diagnose, Rückzug und erneutes Vorwagen ins Leben

Im ersten Moment war die Diagnose eine Erleichterung: «Endlich hatte ich eine Erklärung für das alles. Endlich konnte ich den Leuten erklären, warum ich gewisse Dinge nicht kann. Und dass ich nicht einfach schwach bin, sondern dass ich tatsächlich etwas habe.»  Danach kam die Frustration. «Sie haben mir gesagt, das sei eine unheilbare Krankheit, die sich stetig verschlechtern wird. Ich war 16 Jahre alt. Das gab mir nicht gerade eine hoffnungsvolle Perspektive auf mein Leben.» Er hat sich aus vielen Bereichen seines gewohnten Lebens zurückgezogen. «Ich dachte mit dieser Krankheit wären nun sowieso viele Sachen nicht mehr machbar. Ich habe mich von sozialen Kontakten zurückgezogen und wollte auch nicht mehr ausgehen. Als erstes wollte ich ein ganzes Jahr lang keinen weiteren Arztbesuch, geschweige denn eine Therapie. Ich wollte nur noch meine Ruhe. Auch von meiner Familie habe ich mich zurückgezogen. Ich dachte, ich wäre ja sowieso nur eine Last oder jemand, der den anderen einfach im Weg steht. Klar musste ich in die Schule. Ich kam aber heim und blieb dann einfach in meinem Zimmer.» Das ging etwa ein Jahr so. «Danach dachte ich plötzlich: So kann es ja auch nicht weitergehen. Ich kann ja nun nicht einfach mein Leben aufgeben. Da sagte ich mir: "Fertig! Jetzt habe ich mich lange genug einfach versteckt."» Danach startete Janosch Herzog seine Therapien, eine Intensiv-Reha und die Organisation für das Leben mit der spinalen Muskelatrophie.

Barrieren und der notwendige Extraaufwand, diese zu überwinden

Die Organisation des neuen Lebens, mit Rollstuhl, mit Anpassungen, mit Abklärungen der Zugänglichkeiten im Schulhaus oder der Machbarkeit von Klassenreisen zeigte sofort die vorhandenen Barrieren auf. Thema Stundenpläne: «Ich besuchte die Kantonsschule. Die war zwar barrierefrei gebaut, aber nicht alle Wege zu jedem Schulzimmer waren zugänglich oder zeitlich machbar. Ich erhielt in den Sommerferien jeweils den Stundenplan, den ich dann prüfen musste, ob die Zimmer und der Zimmerwechsel jeweils so gewählt sind, dass ich auch teilnehmen kann. Das ist doch nicht die Aufgabe des Schülers selbst, oder? Das war nämlich sehr aufwändig. Ich verstehe nicht, wieso man die Info: "Ich besuche die Schule mit einem Rollstuhl" nicht einfach bei Eintritt in die Schule weitergeben kann und dann erhalte ich einfach jeweils einen Stundenplan mit ausgewählten Zimmern, die zugänglich sind.» Die Lehrpersonen waren aber schon offen und fragten ihn auch, was er brauche für die Teilnahme an Ausflügen usw. Aber weder die Lehrpersonen noch er selbst hatten grosse Erfahrung darin. So entpuppte sich die vermeintlich barrierefreie Studienreise als Qual für Janosch Herzog. «Wir gingen nach Dublin. Und Dublin ist halt Dublin und wir waren nicht mehr in der Schweiz. Im Fahrplan stand zum Beispiel, der ausgewählte Bus wäre rollstuhlgängig. Die Rampe war aber dann grad kaputt. Oder das Hotelzimmer war als rollstuhlgängig ausgewiesen. Das bedeutete aber nur, dass ich ins Zimmer reinkam. Es hatte keine Dusche, nur eine Badewanne. Ich kann nicht in eine Badewanne reinklettern. Das ist mir zu hoch. Also konnte ich dort gar nie duschen. Oder dann kamen wir an und es hiess: "Freizeit, ihr dürft machen was ihr wollt." Das sind Sachen, die für mich dann sehr schwierig sind. Was mache ich dann? Ich kann nicht einfach spontan los und Dublin besichtigen gehen. Mit einem Rollstuhl braucht man da mehr Vorbereitung.» Alles in allem war die Reise für ihn psychisch und physisch viel zu anstrengend. Aus lauter Stress hat er während dieser Woche dann auch kaum gegessen. «Es ist einfach keine Entspannung, geschweige denn Ferien, wenn man den ganzen Tag erinnert wird: "Das kannst du nicht machen, daran kannst du nicht teilnehmen, da müssen sich andere nun an dich anpassen,..." Das war unerträglich für mich.»

Was denken die sich eigentlich, wie wir unser Leben planen sollen?

Nach einem Zwischenjahr steht nun im Herbst das Studium vor der Tür. Beziehungsweise wird Janosch Herzog hierfür die Türen, das heisst, seinen Wohnort wechseln. Mit der Organisation des Studiums und eines neuen Wohnortes begann ein Hürdenlauf mit Behörden. «Was denken die sich eigentlich, wie wir unser Leben planen sollen? Ich kann nur selbstständig wohnen, wenn ich Ergänzungsleistungen erhalte, sonst kann ich mir keine barrierefreie Wohnung leisten. Diese Zusage habe ich bis heute nicht. Es sagten mir aber alle, das würde in meinem Fall schon klappen. Also habe ich die Wohnung bereits gemietet. Das ist schon auch in Risiko für mich finanziell. Was mache ich, wenn das irgendwie nicht klappt? Dann sitze ich auf einer Wohnung, die ich nicht bezahlen kann. Das ist für mich sehr unangenehm, einfach Geld auszugeben, ohne zu wissen, ob ich es tatsächlich erhalten werde. Aber ich konnte und wollte nicht mehr warten mit der Zusage der Wohnung. Wenn ich keine barrierefreie Wohnung gefunden hätte, hätte ich das Studium nicht antreten können und so vielleicht grad ein Studienjahr verloren.»

An die Assistenz muss ich mich noch gewöhnen

Es ist nun also fast alles organisiert. Auch seine Assistenz. «Das ist für mich schon alles komisch. Wenn es klappt, erhalte ich nun vom Staat Geld, dass ich alleine wohnen kann. Natürlich ist das eine Versicherung, aber ich selbst habe ja noch nie gearbeitet und dort ja nicht selbst einbezahlt. Das ist für mich unangenehm. Oder auch die Sache mit der Assistenz. Es ist mir schon bewusst, dass ich eine Assistenz brauche. Aber irgendwie fühlt es sich auch komisch an, besonders als ich hörte, dass ich die Assistenz auch brauchen darf, um in den Ausgang zu gehen, falls es ein Ort wäre, wo ich Hilfe bräuchte». Er meint weiter: «Stell dir mal vor: Ich bezahle nun jemanden, dass er mit mir in den Ausgang kommt?» Das sei gewöhnungsbedürftig. Er betont erneut, wie wichtig es ihm ist, sein eigenes Geld verdienen zu können. Nun ja: Sein Studium startet. Danach wird er arbeiten und Geld verdienen. Und ein normales Leben wollen. Ein grosser Wunsch:  «Die Integration in ein normales Leben. Ich hätte gerne, wenn man mir sagt: "Hey, du kannst zur Schule, in den Ausgang, auf Reisen, usw." und dass dies dann eine Selbstverständlichkeit wäre.»

Das Gefühl Teil einer Gemeinschaft zu sein ist schön

Nun, bald startet das neue Leben. Er freut sich und hofft, dass alles klappt. Dass er teilnehmen kann, selbständig wohnen und auch ab zu und zu ausgehen. Nach Abschluss des Gymnasiums hat Janosch Herzog ein Zwischenjahr gemacht, wo er bei einer Gastfamilie wohnte und die Zugänglichkeit beim Wohnen und dem Schuljahr gewährleistest war. «Weisst du, ich erlebte dort erstmals bewusst, dass ich nicht nur eine Belastung für andere bin, sondern auch ein Gewinn. Sie haben sich für mich interessiert. Sie haben es als Bereicherung empfunden, mit mir einen Ausflug zu machen, da sie dadurch die Welt durch andere Augen gesehen haben. Sie haben sich für die Zugänglichkeit und Barrieren interessiert. Das war ein sehr schönes Gefühl.» Das gibt ihm auch Mut für sein baldiges neues Leben. Es habe sich schon einiges verändert in den letzten Jahren. Er sagt schmunzelnd zum Abschluss des Gesprächs: «Ich habe mir so viele Gedanken zu vielen Dingen gemacht. Das war ein langer Prozess, wo ich mich teilweise ja auch abgekapselt habe. Aber weisst du, nun sitze ich ja sogar da in der Stadt, bin mit meinem Auto alleine hingekommen und gebe ein Interview. Und bald beginne ich das Studium. Schon cool.»

 

Artikel und Interview: Jasmin Cahannes, EBGB. Das Interview wurde im August 2021 auf Deutsch geführt.

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Letzte Änderung 01.10.2021

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