Mit Behinderungen leben, die nicht immer sichtbar sind

nadine

Ein Gespräch über nicht offensichtliche körperliche Behinderungen und Neurodiversität – und über die Wichtigkeit von guten Diagnosen

Die 40-jährige Nadine lebt mit einer körperlichen Behinderung und einer neurologischen Verschiedenheit. Äusserlich ist kaum etwas davon zu sehen, denn ihre Behinderungen treten meist nicht offen zum Vorschein. Nadine lebt mit dem hypermobilen Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS), und ist Autistin. HEDS betrifft das Bindegewebe und verursacht körperlichen Schmerzen, Müdigkeit und mangelnde Fingerfertigkeit. Autismus ist entwicklungsneuronal bedingt und äussert sich beispielsweise in Besonderheiten im Gesprächsverhalten. Nadine erzählt mir von ihrem Leben, ihrem langen Warten auf eine Diagnose und ihrer Vereinstätigkeit.

«Meine Behinderungen? Damit lebe ich seit meiner Geburt.»

«Meine Behinderungen? Damit lebe ich seit meiner Geburt. Die Diagnose wurde aber erst vor zwei Jahren gestellt.» Um ihre Odyssee bis zur Diagnosestellung zu erklären, erzählt mir Nadine, dass das hEDS eine noch kaum bekannte Krankheit ist und dass Autismus bei Frauen schwieriger zu diagnostizieren ist als bei Männern, da die Diagnoseinstrumente an männlichen Patienten entwickelt wurden. «Ich möchte meine Erfahrungen teilen, um Menschen mit Behinderungen zu helfen, um ihnen zu zeigen, dass ich mich erfolgreich weiterentwickelt habe, dass ich es schaffe, relativ glücklich zu sein. Und ich will die Menschen sensibilisieren, damit sie merken, wie wir leben und was wir erleben, damit sie offener werden.»

Bei Nadine äussert sich das hEDS durch Müdigkeit, körperliche Schmerzen und mangelnde Fingerfertigkeit. Deshalb erhält sie im Alltag Hilfe bei der Pflege zu Hause und bei verschiedenen Aufgaben im Haushalt wie Kochen und Putzen. Autismus äussert sich in Besonderheiten in der Kommunikation. Nadine hat zum Beispiel Schwierigkeiten, zwischen konkreter und metaphorischer Rede zu unterscheiden: «Als wir mal unterwegs waren, sagte jemand, auf der Strasse sei ein schlafender Polizist [Ausdruck auf Französisch für: Bremsschwelle]. Ich dachte, da schlafe ein Polizist auf der Strasse. Ich nehme die Dinge wörtlich.» Sie erzählt mir auch, dass sie, wenn sie unsicher ist und Hilfe braucht, zum Beispiel beim Umsteigen, immer jemanden fragt: «Entschuldigung, ich bin Autistin, können Sie mir helfen?» Neben den «Bugs» in ihrem Kopf, wie sie sie nennt, die beim Reisen Stress verursachen, können auch körperliche Schmerzen wegen der manchmal unbequemen Sitze in öffentlichen Verkehrsmitteln die Fahrten anstrengend machen. Ihre Hypersensibilität für Gerüche kann auch ein Grund sein, dass sie den Ort verlassen muss. Und dann kann sie auch die mangelnde Sensibilität der Menschen in ihrer Umgebung verletzen oder in eine unangenehme Situation bringen. So gab es zum Beispiel viele negative Kommentare von völlig Fremden, als sie während der Covid-19-Pandemie keine Maske tragen konnte.

«Ich habe einen etwas atypischen und chaotischen Hintergrund.»

Heute weiss Nadine genauer, wohin sie will. Das war nicht immer der Fall. Da sie erst relativ spät diagnostiziert wurde, erhielt sie während ihrer Schulzeit und auch später im Studium keine zusätzliche Unterstützung. Als Kind wollte sie Pflegefachfrau werden. Obwohl sie intellektuell dafür durchaus in der Lage wäre, musste sie auf die Ausübung dieses Berufs aufgrund mangelnder körperlicher und kommunikativer Fertigkeiten verzichten. Nach der Ausbildung zur Pflegfachfrau begann sie daher eine Lehre als Chemielaborantin. Doch die Müdigkeit und fehlende Fingerfertigkeit machten ihr auch hier zu schaffen. Als 30-Jährige erwarb Nadine schliesslich ein Diplom als Kauffrau. Die Diagnose, die während ihrer Ausbildung gestellt wurde, war zwar falsch, aber dadurch hat sie Unterstützung bekommen. Eine korrekte Diagnose hätte ihr aber andere Möglichkeiten eröffnet. Obwohl sie sich bemüht, eine Arbeit zu finden, stösst sie heute auf Hindernisse in der Arbeitswelt und hat Schwierigkeiten, hEDS bei der IV als Invaliditätsgrund anerkennen zu lassen, insbesondere weil die Diagnose erst spät gestellt wurde. Nadine ist daher stark von ihrem privaten Umfeld abhängig, das sie unterstützt.

«Bei mir wurde die Krankheit viel zu spät diagnostiziert. Wäre die Diagnose früher erfolgt, wäre ich besser begleitet gewesen, hätte mehr Hilfe und Unterstützung bekommen, hätte arbeiten können, wäre selbstständiger und weniger von anderen abhängig gewesen. Ich würde wirtschaftlich und persönlich besser dastehen. Ich habe Glück, ich lebe in einer Partnerschaft, aber es ist manchmal schwierig, Freundschaften zu schliessen oder Liebesbeziehungen einzugehen. Eine früher gestellte Diagnose hätte mich davor bewahren können, arbeitslos zu werden.»

«Es geht darum, Prioritäten zu setzen, und gut zu überlegen, wofür man kämpfen will.»

Nadine engagiert sich stark im Bereich der Behindertenarbeit auf Vereinsebene. Sie ist unter anderem Vorstandsmitglied der Association neuchâteloise d'accueil et d'action psychiatrique (ANAAP) und des Vereins Autisme Neuchâtel. Nadine sagt, sie müsse auf persönlicher Ebene noch Entscheidungen treffen und Prioritäten setzen, etwa, ob sie Kinder möchte, ob sie bei der IV um Unterstützung kämpfen solle oder wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen solle. «Die Verbände (Procap, ANAAP, Pro Infirmis) kämpfen unermüdlich darum, dass unsere Rechte anerkannt werden. Ich kann mich glücklich schätzen.» Die Organisationen unterstützen Nadine bei den administrativen Schritten im Zusammenhang mit der IV, bieten ihr aber auch formelle und informelle psychologische Hilfe dank gemeinsamer Momente, der Teilhabe am sozialen Leben, usw.

«Falsche Diagnose führt zur falscher Behandlung»

«Ich möchte noch einmal betonen, dass ich sehr viel Glück hatte. Meine Eltern haben mich immer unterstützt und ich konnte bei ihnen wohnen. Ich wohne auch heute noch zuhause. Ich lebe an zwei Orten: bei meinem Freund und bei meinem Vater. Meine Eltern haben mich auch finanziell während der Schulzeit und meiner Ausbildung unterstützt.» Es sei auch für die Familien nicht einfach mit einem Menschen mit Behinderung zusammenzuleben. «Vor fünf Jahren wurde ich – im Rollstuhl – wegen psychologischer und psychosomatischer Störungen in ein Heim eingewiesen. Die Ärzte wussten nicht, dass ich diese Krankheiten hatte, und steckten mich in die Schublade Psychiatrie. Ich war ein Jahr lang unter Beistandschaft im Heim. Das hat mir so richtig zugesetzt. Ich habe meinen Eltern das Leben schwer gemacht, unbewusst, aber manchmal auch absichtlich. Egal, welche Behinderung, die Angehörigen müssen schon viel einstecken. Sie hätten auch mal Ferien verdient.» Sie erklärt mir auch, dass sie Schwierigkeiten hat, echte Freundschaften zu schliessen, da soziale Kommunikation Autismus-bedingt nicht ihre Stärke sei. «Ich habe nur sehr wenige Freunde, auf die ich mich verlassen kann, und die, die ich habe, sind tolerant und aufgeschlossen. Meine erweiterte Familie ist die in den Vereinen wie dem ANAAP. Die Leute dort haben die gleichen Schwierigkeiten wie ich.»

«Es ist die Gesellschaft, die, so wie sie aufgebaut ist, uns zu Behinderten macht.»

Nadine sieht sich zwar in vielerlei Hinsicht in ihrer Situation als Glückspilz, weist aber auch auf Verbesserungspotenzial hin: «Die Politik sollte mehr tun, mehr an Menschen mit Behinderungen denken. Diese Diagnosen sollten besser anerkannt werden, es sollte mehr in die Forschung investiert werden. Unsere Gesellschaft sollte inklusiver und besser informiert sein. Die Fachleute müssten besser geschult sein.Es bräuchte verbindlichere Gesetze und eine schnellere Umsetzung, mehr Schulungen, mehr Inklusion in der Arbeitswelt zum Beispiel. Wir sind eine ausgegrenzte Minderheit, so wie alle anderen Minderheiten auch. In der Schweiz geht alles sehr langsam.» Sie betont, wie wichtig die Forschung ist. Fehlendes Wissen zu bestimmten Krankheiten, was sich in einer mangelnden Anerkennung dieser Krankheiten niederschlägt, kann sich stark auf das Leben der Betroffenen auswirken, was auch ihre Geschichte zeigt. «Wir werden als anders wahrgenommen. Ich sage mir oft, dass es die Gesellschaft ist, die krank ist, und dass wir eine Art Heilerinnen und Heiler sind, die der Gesellschaft beibringen, Menschen wie uns anzunehmen. So sehe ich unsere Rolle. Das gilt vor allem für Autismus: Wir Autisten sind nicht eigentlich behindert, sondern es ist die Gesellschaft, die, so wie sie aufgebaut ist, uns zu Behinderten macht. Im Grunde genommen halte ich mich nicht für behindert. Wäre die Mehrheit der Menschen so wie ich, hätte sich die Gesellschaft anders ausgestalten müssen.»

 


 

Artikel und Interview: Laura Coppex, GS-EDI. Das Interview wurde im April 2023 auf Französisch geführt.

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Letzte Änderung 29.06.2023

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