Redet mit uns, statt über uns!

Ein Gespräch über Cerebralparese, sexuelle Selbstbestimmung und Elternschaft.

Portrait von Vanessa Leuthold. Sie lächelt in die Kamera. Frau Leuthold trägt eine schwarze Brille, welche von ihrem blonden Bob umrahmt wird. Um den Hals trägt sie einen roten Schal mit weissen Punkten. Gekleidet ist sie in einem roten Oberteil mit weissem Muster.

Vanessa Leuthold, 32 Jahre alt, aus Luzern, Mitarbeiterin bei «Cerebral Schweiz» und bei «sexuelle Gesundheit Schweiz» sowie Reporterin ohne Barrieren bei Inclusion Handicap.

Mein Körper, mein Leben und ich

Geboren wurde ich als Frühchen in der 29. Schwangerschaftswoche. Kurz nach der Geburt hatte ich eine Gehirnblutung, wodurch eine cerebrale Bewegungsbehinderung, auch Cerebralparese (CP) genannt, entstanden ist. Aufgrund dieser Behinderung brauche ich einen Rollstuhl. Meinen eigenen Haushalt kann ich fast vollständig alleine führen und komme ohne zusätzliche Pflege zu Hause aus.

Die CP äussert sich in Spasmen und Muskel-Lähmungen, die sich abwechseln. Die Spasmen treten überall auf, aber der Fokus ist in den Beinen und in der rechten Hand. Am stärksten sind die Lähmungen frühmorgens direkt nach dem Aufwachen. Dann bin ich zwar geistig wach, aber der ganze Körper ist noch gelähmt. Es braucht Zeit, bis sich die Lähmungen auflösen. Das bedeutet, dass ich am Morgen immer einkalkulieren muss, dass es länger dauert, bis ich aufstehen kann. Wenn ich einen Termin habe, muss ich sehr zeitig den Wecker stellen.

Ich bin ein sehr aktiver Mensch. Ich bin gern unterwegs, bin gerne unter Leuten. Wenn ich an einem Tag körperlich sehr aktiv war, kann es sein, dass ich den ganzen Tag danach extrem langsam unterwegs bin und alles bewusst ansteuern muss. Dann nervt es mich, dass ich auf Aktivitäten verzichten muss, und gar nichts anderes machen kann, ausser mich erholen oder schlafen.

Als direkt Betroffene bin ich Aktivmitglied der Vereinigung Cerebral Zürich und beim Rollstuhlclub der Schweizerischen Paraplegiker Vereinigung. Mit dem Rollstuhlclub gehe ich sehr gerne Skifahren und Tanzen. Für Rechtsberatung wende ich mich jeweils an Inclusion Handicap, wo ich gut beraten und unterstützt werde.

Nach der Schule habe ich das KV gemacht. Die Berufswahl war für mich eine grosse Enttäuschung. Ich bin sehr wissbegierig und offen für Neues. Voller Euphorie ging ich nach dem Schulabschluss zur Berufsberatung mit dem Wunsch, Kindergärtnerin zu werden. Ich hätte mir auch noch diverse andere Ausbildungen vorstellen können. Doch alles wurde abgeschmettert nach dem Motto: Das geht nicht mit der Behinderung. Man stellte mich vor die Wahl: Entweder gehe ich in eine Werkstatt «Schrübli sortieren» oder ich mache das KV. Mit meinen intellektuellen Fähigkeiten habe ich mich fürs KV entschieden. Eine echte Berufs-Wahl war das nicht, denn ich hatte keine Auswahl. Ich will das KV nicht verteufeln, es ist eine gute Grundausbildung. Aber es war nicht das, wofür mein Herz brannte.

Let's talk about Sex

Das Thema Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist mir sehr wichtig, persönlich sowie auch beruflich. Ich arbeite deshalb unter anderem bei der Dachorganisation Vereinigung Cerebral Schweiz. Es geht dabei um die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Zudem habe ich kürzlich bei «Sexuelle Gesundheit Schweiz» eine weitere Tätigkeit aufgenommen. Dabei geht es um Prävention von sexualisierter Gewalt.
Sexualität von Menschen mit Behinderungen ist ein provozierendes Thema, das mich auch direkt persönlich betrifft. Das passt auch gut zu mir, denn ich habe es gerne provokativ und nehme kein Blatt vor den Mund. Unsere Gesellschaft geht davon aus, dass Menschen mit körperlichen Behinderungen asexuelle Wesen sind, die kein Interesse, geschweige denn Lust, auf Sex haben. Das stimmt natürlich überhaupt nicht!
Ich setze mich aktiv dafür ein, dass das Tabu betreffend Sex und Behinderung aufgebrochen wird, dass wir Betroffene als ExpertInnen anerkannt und in die Diskussion und Forschung eingebunden werden. Redet mit uns, statt über uns! Diese Forderung ist mir sehr wichtig.


Eine eigene Familie gründen trotz Behinderung?

Nicht nur die Sexualität von Menschen mit Behinderungen ist ein Tabu. Dasselbe gilt für das Thema Mutterschaft und Elternschaft.
Die Vorstellung, ein Mensch mit Behinderung könne keine Kinder aufziehen, beherrscht die öffentliche Meinung. Deshalb gibt es das Sterilisationsgesetz, das extra für uns Menschen mit Behinderungen erlassen wurde. Da drin steht, dass Sterilisationen unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Zustimmung der Betroffenen erlaubt sind. Dieses Gesetz wurde zum Glück schon stark eingeschränkt, und Bestrebungen sind im Gange, es vollends abzuschaffen.
Aber auch die Praxis, Schwangerschaften von Frauen mit Behinderung durch Verhütung per Dreimonats-Spritze zu verhindern, finde ich sehr problematisch. Man sollte jeden Menschen für sich betrachten und nicht alle in den gleichen Topf werfen. Wir sind alle Individuen.
Die Vereinigung Cerebral Schweiz hat deshalb das Strategiethema «selbstbestimmte Sexualität und Partnerschaft» aufgegleist. Daraus ist eine Website entstanden über Sexualität von Menschen mit einer cerebralen Bewegungsstörung. Die Adresse der Website ist https://www.cerebral-love.ch/de/. Cerebral Schweiz ist auch offen für Menschen mit anderen körperlichen Behinderungen sowie auch für Fachleute und Angehörige.
Der Austausch von Betroffenen untereinander ist dabei das Wichtigste. Da es ja generell schon schwierig ist, über das Thema Sexualität zu reden, hat Cerebral Schweiz auf der Website ein geschlossenes Forum erstellt, wo wir Betroffene untereinander anonym diskutieren, Erfahrungen und Tipps austauschen können. Dies ist immens wichtig, denn es gibt noch keine Erfahrungsberichte und Austauschmöglichkeiten. Das wollen wir jetzt herstellen.
Ein weiteres Ziel der Website ist, einen Wissensstand zum Thema Elternschaft von Menschen mit Behinderungen aufzubauen und die verschiedenen Akteurinnen und Akteure miteinander zu verbinden. Grundsätzlich ist es zwar möglich, Eltern zu werden, aber der Weg ist immer noch mit vielen Hürden verstellt.

Mutter werden – Mutter sein

Ich persönlich würde gerne einmal Mutter werden, aber ich sehe viele Herausforderungen. Ich muss eine geeignete gynäkologische Praxis und Geburtshilfe finden. Nach meiner bisherigen Erfahrung wissen Mediziner und Medizinerinnen in diesem Bereich nichts oder fast nichts über Menschen mit körperlichen Behinderungen. Ich musste zum Beispiel meiner neuen Gynäkologin erklären, wie sie mit meinem Körper umgehen soll. Sie war im Studium nicht darauf vorbereitet worden, war gänzlich unerfahren und deshalb gehemmt.
Eine Bekannte von mir mit derselben Behinderung ist vor fünf Jahren Mutter geworden. Es war ein Riesenaufwand für sie, die geeigneten Möbel zu finden, zum Beispiel einen Wickeltisch, den sie mit dem Rollstuhl unterfahren kann. Auch die Finanzierung dafür zu finden war schwierig. Sie fühlte sich sehr alleine gelassen.

Weder Opfer noch Helden

Mein Hauptanliegen ist, dass man uns Betroffene mehr miteinbezieht, politisch, sozial und gesellschaftlich. Es wird zwar immer mehr über Menschen mit Behinderungen berichtet, was ich gut finde und worüber ich mich freue. Wir sind aber immer noch ein grosses Stück von einer wirklichen Inklusion entfernt, weil wir in der Gesellschaft immer noch entweder als die «armen» Opfer oder als Heldinnen und Helden gesehen werden. Das stört mich. Ich würde mir wünschen, vor allem als Mensch wahrgenommen zu werden.

Neben meiner beruflichen Tätigkeit bin ich in Ausbildung als Reporterin Ohne Barrieren bei Inclusion Handicap. Öffentlichkeitsarbeit und Medien sind auf dem Weg zur Inklusion enorm wichtig. Ich möchte als Reporterin ohne Barrieren für unsere Anliegen ein Sprachrohr sein und alle Menschen mit Behinderungen ermutigen: Nehmt eure Bedürfnisse wahr und kommuniziert sie, denn nur so können wir etwaige Missstände aufdecken, aktiv angehen und verändern. Wenn wir immer nur schweigen und die Faust im Sack machen, dann verändert sich nichts.

 

Portrait nach einem mündlichen Interview mit Vanessa Leuthold, erstellt von Nathalie Anderegg, ReporterIn ohne Barrieren @Inclusion Handicap. Das Interview wurde im November 2022 auf Deutsch geführt.

Fachkontakt
Letzte Änderung 14.12.2022

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