Wir brauchen eine Ansprechperson in der Politik

Ein Gespräch über Barrieren und den Kampf um vermeintlich Selbstverständliches.

Foto von René Sittig. Man sieht ihn auf dem Foto an einem DJ-Pult mit Kopfhörer.
René Sittig

René Sittig, 42 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, DJ, Rollstuhlfahrer und ein Kämpfer. Er erzählt über den Kampf, vermeintlich Selbstverständliches einfordern zu müssen. Damit Barrieren nachhaltig abgebaut werden, wünscht er sich Personen in der Politik, die sich direkt für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen einsetzen.

Zu Beginn des Interviews frage ich René Sittig nach seinem Beruf und Ausbildung. Es kommt eine unglaubliche Fülle an Berufserfahrungen zusammen. Darunter angefangene, abgebrochene und abgeschlossene Lehren und Anstellungen als Konstruktionstechniker, kaufmännischer Angestellter, Rezeptionist, Fachmann Betreuung und einiges mehr. Nun arbeitet er in einer Institution an einem geschützten Arbeitsplatz.

Nicht nur Treppen sind Hürden

Dass vieles nicht klappte mit den Ausbildungen oder Anstellungen sei wohl eine Kombination aus den Hürden seiner Einschränkungen und dem organisatorischen Versagen von Unterstützung. Er erzählt: «Ich hatte eine Anstellung in Aussicht. Am Arbeitsort fehlte jedoch ein Lift. Der Chef war bereit, mir eine Rampe zu organisieren und nach Ablauf der Probezeit, den Ort barrierefrei umzugestalten. Zum Vorstellungsgespräch war ein Jobcoach zu meiner Unterstützung vorgesehen. Doch zum vereinbarten Termin war diese Person krank. Sie wollte selbst dabei sein und organisierte keine Stellvertretung, so dass das Gespräch verschoben werden musste. Doch sie blieb länger abwesend und die Zeit verstrich bis die Stelle weg war. Ich weiss auch nicht warum ich das Gespräch nicht alleine führte. Man sagte mir, das mache man in meiner Situation mit einem Jobcoach zusammen.»

Andere Beispiele zeigen die Angst, jemanden mit einer Beeinträchtigung, insbesondere jemanden im Rollstuhl einzustellen. Er wollte die Ausbildung zum Fachmann Betreuung machen und hatte auch schon Berufserfahrung darin. Doch die Antwort lautete: «Das geht doch nicht im Rollstuhl.» René Sittig fügt an: «Ich verstand nicht, wieso man nicht auch Hilfsmittel oder eine Anpassung meiner Tätigkeiten ins Auge fasste. Die waren damals einfach noch nicht so weit, um diesen Schritt zu wagen.»

Seine Hürden sind nicht nur die Treppen. Er ist seit seinem 16. Lebensjahr von einem Tremor betroffen: Bei Druck, Stress und insbesondere bei Prüfungssituationen fängt er an zu zittern und die Leistungsfähigkeit ist blockiert. Dies mit der Kombination als Rollstuhlfahrer eine höhere Weiterbildung zu machen oder eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt zu finden, sei doppelt schwierig.

Das Risiko einer Anstellung im ersten Arbeitsmarkt

Er arbeitet nun in einem geschützten Arbeitsplatzumfeld. «Ich könnte mir gut vorstellen, auch im ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten. Aber durch meine Querschnittlähmung habe ich immer wieder krankheitsbedingte Ausfälle. Da ist das Risiko einfach zu hoch, den Job zu verlieren.» Typisch sind die Druckstellen: «Wenn ich zu lange auf etwas sitze oder liege, was ich ja dann nicht selbst spüre, gibt mir das Druckstellen, welche sich zu Läsionen entwickeln. Diese müssen teils operativ, teils mit absoluter Bettruhe geheilt werden. Das kann dann schon bis zu sechs Wochen dauern, bis ich wieder arbeiten gehen kann». «Im geschützten Arbeitsmarkt bin ich da eben geschützt und verliere den Job nicht.»

Er engagiert sich in der Gruppe «Mitsprache», die sich für die Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen einsetzen. Zum Beispiel mit dem Slogan: «Wir wollen gerechten Lohn oder mehr Sackgeld». Herr Sittig weiss wofür er kämpft: «Ich erhalte ja auch am geschützten Platz anspruchsvolle Arbeiten und da wäre es schon angebracht, entsprechend entlöhnt zu werden und nicht mehr auf die Ergänzungsleistungen angewiesen zu sein.» Zudem sagt er, sie müssen in der Produktion extrem auf Qualität achten: «Wenn nur etwas Kleines nicht gut ist, sagen die Leute «das haben Behinderte gemacht» und bestellen dann nicht mehr bei uns.»

«Umstände die nicht passen, muss man sich passend machen.»

«Wir hatten diesen Winter sehr viel Schnee. Die Gemeinde räumte den Schnee nicht weg. Ich konnte nicht mehr raus mit dem Rollstuhl.» Er rief die Gemeinde an und erklärte das Problem. «Sie mussten zuerst einen Termin finden, wann sie denn Schnee wegräumen konnten. Und einen Ort, um den Schnee zu entsorgen. Das ging dann aber über eineinhalb Wochen bis das erledigt wurde. In dieser Zeit konnte ich zwar mit dem Auto fort, aber für kurze Strecken nicht mehr mit dem Rollstuhl.»

Herr Sittig erzählt, auch er habe Termine und eine Arbeit. Wenn er wegen dem Schnee, der nicht weggeräumt wird oder sonstigen Barrieren oder fehlendem Bewusstsein seine Termine verpasst, nervt das einfach. «Das will ich nicht akzeptieren und dagegen kämpfe ich. Aber eben: das alleine zu machen ist schwierig. Auch für die Organisationen ist es schwierig und langwierig: Immer und immer wieder Briefe zu schreiben. Zu reklamieren. Wir bräuchten dringend Politiker, die sich für die Bedürfnisse von uns einsetzen. Dann ginge es vielleicht schneller voran.»

Es folgen im Interview eine Reihe von Beispielen von seinem persönlichen Kampf. Hier eine kleine Auswahl: «Im Einkaufscenter in meiner Nähe gibt es zwar Behindertenparkplätze. Manchmal waren die aber mit den Autos von Kurierdiensten oder Postboten besetzt. Ich reklamierte direkt bei den jeweiligen Chauffeuren. Die sagten mir, sie hätten vom Center selbst die Erlaubnis erhalten, kurz hier parkieren zu dürfen. Also reklamierte ich beim Einkaufscenter selbst. Nach fünf Emailen haben sie dann reagiert und bei den Behindertenparkplätzen eine Mahnung geschrieben, dass das Parkieren nur mit entsprechender Bewilligung erlaubt sei. Nun ist es besser.»

Besonders die Ignoranz sei nervend. «Es ist ja klar, dass ein Rollstuhlfahrer auf dem Behindertenparkplatz den Abstand zum Aussteigen braucht. Einmal hat jemand einfach so nah an mir parkiert, sogar einen Teil auf meinem Feld, dass ich nicht mehr einsteigen konnte. Ich wartete einen Moment. Und einen weiteren Moment. Doch es kam niemand. Also ging ich wieder mal reklamieren. Der entsprechende Autofahrer wurde nicht gefunden. Der Abwart meinte, er könne den Abschleppdienst noch nicht rufen, die nötige Kulanzzeit dafür wäre noch nicht erreicht. Also blieb mir nichts anderes übrig als zu warten.»

Es geht aber nicht nur darum, einen Termin zu verpassen. René Sittig hat ja auch eine Familie mit zwei Kindern. Nach dem Einkaufen möchte er einfach gerne nach Hause und nicht ewig auf dem Parkplatz warten. Lächelnd erzählt er: «Das Schöne ist, meine Kinder akzeptieren mich und meine Umstände wie sie sind. Natürlich fragen sie: «Papa, warum kannst du nicht gehen?» Ich erkläre es ihnen und das verstehen sie dann. Auch wenn sie es nach drei Tagen erneut fragen.» Seine Tochter ist sieben, sein Sohn vier Jahre alt.

Ich freu mich wieder auf Partys

Wir sprechen über den Begriff der Selbstbestimmung. «Ich fühle mich selbstbestimmt. Insbesondere da ich privat wohne und meine Freizeit selbst gestalten kann. Natürlich sind halt zum Beispiel Ferien immer teurer für uns als ganze Familie, da wir ein rollstuhlgängiges Hotel suchen müssen. Aber in die Ferien fahren kann ich. Meinen Hobbies kann ich auch nachgehen.» Er ist DJ und legt regelmässig Musik auf, besonders an den barrierefreien «LaViva» Partys von Procap. Er freut sich auf die Zeit, wenn Corona dann mal vorbei ist. Wen es in der Zwischenzeit Wunder nimmt: Die Lieblingssongs und weitere Informationen von René Sittig alias «DJ Threnie» sind auf seiner Webseite zu finden: «DJ Duo – René & Adrian».

 

Artikel und Interview: Jasmin Cahannes, EBGB. Das Interview wurde im Mai 2021 per Video auf Deutsch geführt.

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Letzte Änderung 11.06.2021

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