Antirassismus-Proteste im Frühsommer 2020

Nun sind die Polizei und die Verwaltung gefragt, konkrete Massnahmen zu ergreifen.

Wir haben für das «Fenster auf den Diskriminierungsschutz» vom August 2020 mit Alma Wiecken (AW, Leiterin Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR) und Amina Benkais-Benbrahim (AB, Integrationsdelegierte und Leiterin des Bureau cantonal pour l'intégration des étrangers et la prévention du racisme VD) darüber gesprochen, was die Antirassismus-Proteste im Frühsommer für Ihre Arbeit bedeuten. 

Die Protestbewegung, die sich infolge des Todes des Afroamerikaners George Floyd in der Schweiz gebildet hat, fordert die Anerkennung von Rassismus und von Polizeigewalt und Racial Profiling, sowie bessere Repräsentation von PoC in Institutionen und Medien. Ergeben sich daraus auch konkrete Forderungen an die Behörden oder an Ihre Institution?

AB: Durch den Tod von George Floyd wurde auf der ganzen Welt eine der vielen Ausdrucksformen von Rassismus zum Schwerpunktthema. Leider ist Rassismus kein neues Phänomen; es gab ihn schon immer, in vielen verschiedenen Formen. Das BCI hat keine spezifischen Forderungen im Zusammenhang mit der schweizerischen Protestbewegung rund um den Tod von George Floyd erhalten. Allerdings kann nicht bestritten werden, dass Rassismus in der Schweiz existiert. Mehrere Studien in der Schweiz belegen, dass es in verschiedenen Lebensbereichen zu Diskriminierung und Ungleichbehandlungen kommt, beispielsweise bei der Stellen- oder Wohnungssuche. Diese verschiedenen Ausdrucksformen von Rassismus hängen nicht direkt damit zusammen, was in den USA passiert. Das heisst aber nicht, dass kein Handlungsbedarf besteht und dass man nicht wachsam bleiben muss.

Wie? Die Rassismusprävention ist noch nicht lange in der schweizerischen Politik verankert. Im Kanton Waadt gibt es eine gesetzliche Grundlage für die Rassismusprävention: das kantonale Gesetz zur Integration von Ausländerinnen und Ausländern und zur Rassismusprävention (loi cantonale sur l'intégration des étrangers et la prévention du racisme, LIEPR). Es wurde 2007 verabschiedet und hält als ausdrückliches Ziel die Integration sowie die Prävention jeglicher Form von Rassismus fest (Art. 1). Das LIEPR ist das erste Gesetz dieser Art in der Schweiz. Diese gesetzliche Grundlage und die Aufnahme der Diskriminierungsprävention in die kantonalen Integrationsprogramme haben in den meisten Kantonen die Handlungsmöglichkeiten zur Bekämpfung des Rassismus erleichtert: Information und Sensibilisierung verschiedener Zielgruppen, Unterstützung von Projekten und Schaffung von Beratungsstellen für Opfer von Diskriminierung.

AW: Ja, durchaus. Die Debatte über Racial Profiling ist wichtig und richtig, auch wenn es ja kein neues Problem ist. Nun sind die Polizei und die Verwaltung gefragt, konkrete Massnahmen zu ergreifen. Aus meiner Sicht gehört dazu einerseits, Abläufe zu implementieren, mit denen Racial Profiling sichtbar gemacht werden kann. Ein Problem ist ja, dass diese diskriminierende Praxis nur schwer dokumentiert werden kann und bisher kein Monitoring dazu stattfindet. Unzählige Betroffene berichten über entsprechende Erfahrungen mit der Polizei, von Seiten der Polizei wird jedoch regelmässig bestritten, dass Racial Profiling stattfindet. Interessant wäre es zum Beispiel, die Einführung eines Quittungssystems zu prüfen, im Rahmen dessen, Ort, Zeit und Grund einer Polizeikontrolle schriftlich festgehalten wird. Auf der anderen Seite ist es notwendig, dass in Fällen von Racial Profiling unabhängige Beschwerdemechanismen zur Verfügung stehen und bei einer allfälligen Strafanzeige gegen die Polizei die Unabhängigkeit des Verfahrens in jedem Fall sichergestellt ist. Was die bessere Repräsentation von PoC angeht, so sind alle öffentlichen Institutionen gefragt, die institutionelle Öffnung ernsthaft voranzutreiben – mit den KIP besteht dafür bereits ein Rahmen und die FRB unterstützt die Kantone bei der Umsetzung. Dazu gehört auch, sicherzustellen, dass eine Institution die Bevölkerung in ihrer personellen Zusammensetzung repräsentiert.


Was bedeutet die aktuelle Situation für die Anti-Rassismus-Arbeit der Schweiz? Tun sich neue Handlungsspielräume auf?

AB: Die verschiedenen Protestveranstaltungen auf der ganzen Welt sind eine Aufforderung für die Schweiz, dass die antirassistischen Bemühungen nicht nachlassen dürfen. Die seit Jahren geleistete Arbeit ist Grundlagenarbeit: das einzig wirksame Mittel im Kampf gegen Rassismus. Zum einen muss die stetige «klassische» Informations- und Sensibilisierungsarbeit zum Abbau von Vorurteilen fortgesetzt werden. Gleichzeitig muss in der Politik darauf hingearbeitet werden, dass die Voraussetzungen für die Gleichbehandlung und den Zugang zu staatlichen Leistungen gewährleistet sind. Schliesslich sind Flexibilität und Innovation gefragt, um neuen Formen der Fremdenfeindlichkeit, beispielsweise dem Rassismus im Internet, zu begegnen. Der Kanton Waadt hat auf den sozialen Netzwerken die Kampagne «Stop racisme» lanciert, bei der auf die persönliche Verantwortung auf den sozialen Netzwerken hingewiesen wird.

AW: Schon lange wurde nicht mehr so intensiv und vielfältig über Rassismus in der Schweiz diskutiert. Einige Diskussionsschauplätze, wie z.B. die Debatte über Racial Profiling, strukturelle Diskriminierung und die von den Betroffenen alltäglich erlebten Diskriminierungen waren und sind für die Anti-Rassismus-Arbeit fruchtbar, andere Themen, die aufkamen, wie z.B. die Diskussion um die Schoggiküsse sind bei einem grossen Teil der Bevölkerung auf Unverständnis gestossen. Positiv überrascht hat mich, dass eine gesellschaftliche Debatte angestossen werden konnte, wie sehr unsere westliche Gesellschaft und unser Wohlstand auf dem Erbe der rassistisch-kolonialen Ausbeutung und auf Sklaverei beruhen, wie die rassistische Stereotype aus dieser Zeit in der Gesellschaft nachwirken, und dass auch die Schweiz ihre Rolle in diesem ganzen Komplex aufzuarbeiten hat. Hier ist es nun wichtig, am Ball zu bleiben.
Im Parlament sind ausgelöst von der öffentlichen Debatte über Rassismus einige Vorstösse eingereicht worden, so z.B. zwei Vorstösse, die einen besseren Schutz gegen Racial Profiling fordern. Ein Thema, welches erstaunlich wenig aufkam, ist das Fehlen eines wirksamen zivilrechtlichen Diskriminierungsschutzes. Schon 2010 hat die EKR in ihrer Analyse «Recht gegen rassistische Diskriminierung» aufgezeigt, dass die rechtlichen Grundlagen in der Schweiz keinen ausreichenden Schutz vor rassistischer Diskriminierung gewährleisten und dringender Handlungsbedarf besteht. Bisher sind allerdings alle Bemühungen im Parlament, den zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz zu verbessern, gescheitert. Es ist wichtig, die aktuelle Dynamik in Parlament und Gesellschaft zu nutzen, um hier endlich einen Schritt weiterzukommen.


Was braucht es, damit die aktuellen Dynamiken nachhaltig zu einem besseren Verständnis von Rassismus und der spezifischen Situation in der Schweiz beitragen können?

AB: Der Kampf gegen Rassismus muss Teil der Politik bleiben und durch sie unterstützt werden. Es ist absolut zentral, dass die Bemühungen zur Information und Aufklärung der gesamten Bevölkerung – der Fachleute ebenso wie der Bürgerinnen und Bürger jeden Alters – weitergeführt werden. Dazu müssen weiterhin Mittel für die Rassismusbekämpfung bereitgestellt werden. So können alle institutionellen Akteure einbezogen werden, denn Rassismus ist und bleibt themenübergreifend. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Schweiz eine Reihe von internationalen Verpflichtungen eingegangen ist und eine Rassismus-Strafnorm eingeführt hat, mit der sie sich verpflichtet, alle Bürgerinnen und Bürger vor Rassismus zu schützen. Das sind die Herausforderungen und Aufgaben der Schweiz.

AW: Die Black Lives Matter-Bewegung gegen Polizeigewalt und Rassismus in den USA war ein wichtiger und nicht zu unterschätzender Impuls für die Schweiz. Das erste Mal seit den Protesten gegen das Gastarbeiterregime zwischen den späten 1960ern und den frühen 1980ern finden in der Schweiz wieder Massenproteste gegen Rassismus statt. Um diese Bewegung auch für die Schweiz langfristiger nutzbar zu machen, ist es wichtig, den Diskurs aus den USA auf die Schweiz anzupassen. Das Ausmass der rassistischen Polizeigewalt in den USA ist nicht mit der Situation in der Schweiz zu vergleichen. Dennoch darf diese Erkenntnis nicht dazu führen, die Probleme, die wir z.B. mit Racial Profiling in der Schweiz haben, zu relativieren. Auch würde es im Schweizer Kontext zu kurz greifen, nur über anti-Schwarze-Rassismus zu sprechen. Damit die aktuelle Dynamik eine langfristige Wirkung entfalten kann, müssen die verschiedenen Schauplätze und Akteure antirassistischer Kämpfe verknüpft werden. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass das «nicht dazugehören» immer wieder verschiedene Formen annimmt und rassistische Diskriminierung immer wieder verschiedene Gruppen treffen kann. 

 

 
 
 

Letzte Änderung 13.08.2020

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