100 Jahre Zollvertrag Liechtenstein-Schweiz

Schaan, 29.03.2023 - Rede von Bundespräsident Alain Berset anlässlich der Feier zum 100-Jahr-Jubiläum des Zollvertrags Fürstentum Liechtenstein-Schweiz (seulement en allemand). Seule la version orale fait foi.

Ich freue mich sehr, heute hier in Schaan zu sein und mit Ihnen dieses Jubiläum zu feiern! Zwei Staaten können sich nicht näherstehen als die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein.

Schauen Sie sich nur unsere Nationalhymnen an: Wir besingen den «Alpenfirn», Sie die «Alpenhöh’n», wir das Strahlenmeer und Sie den jungen Rhein. Hymnentechnisch könnten wir glatt fusionieren. Mit Jakob Josef Jauch hat ja auch ein Schweizer die liechtensteinische Nationalhymne geschrieben. Obwohl er vielleicht mehr Liechtensteiner als Schweizer war: Jauch stammte aus einem Urschweizer Geschlecht, wurde in Russland geboren, ist reformiert aufgewachsen, studierte in Basel, Luzern und Chur, wurde katholischer Priester, arbeitete im Elsass, in London und in Italien, fühlte sich in Balzers zu Hause, wurde vom Fürstenhaus unterstützt, bis ihn der Bischof von Chur aus Liechtenstein wegbeorderte. Über 100 Jahre lang hatten die Schweiz und Liechtenstein sogar dieselbe Melodie für unsere Hymnen: «God save the King» des Vereinigten Königreichs. Die Schweiz hat sich dann 1961 hymnisch vom König losgesagt und den Schweizerpsalm eingeführt.

Liechtenstein und die Schweiz waren sich schon immer nah. Der Zollvertrag, den wir heute feiern, brachte unsere Länder noch näher zusammen. Selbstverständlich war dieser Vertrag nicht: Wir wissen, dass er an Vorurteilen hätte scheitern können. Auf beiden Seiten der Grenze gab es Gegner des Vertrags. Die einen befürchteten negative Folgen für die Wirtschaft. Aber es gab auch grosse Vorbehalte gegen die Konfession auf der jeweils anderen Seite des Rheins. Es tauchten beidseitig Vorwürfe auf, die von drüben seien nicht gesetzestreu.

Dass sich unsere Vorfahren gegen solche Vorurteile und für den Zollvertrag ausgesprochen haben, ist ein Beispiel für Weitblick und eine kluge politische Weichenstellung. Wir wissen, dass sich die positiven Folgen des Zollvertrags bald schon nach der Unterzeichnung gezeigt haben. Beide Länder haben davon politisch und wirtschaftlich profitiert. Gerade auch die Schweizer Grenzregionen, wo einst vor einem Anstieg des Schmugglerwesens gewarnt wurde. Die Schweizer Grenzwächter durften erleichtert feststellen, dass sich die liechtensteinischen Berge als Schmuggler-Routen auch nicht besser eignen als unsere.

Im Laufe der Jahrzehnte sind die Wirtschaftsräume immer weiter zusammengewachsen. Heute sind die Verflechtungen so eng, dass sich die Handelsströme nicht mehr sinnvoll erfassen lassen. Was wir wissen: mehr als 56 Prozent der Beschäftigten in Liechtenstein sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger – und mehr als zwei Drittel von ihnen leben in der Schweiz.  

Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung seit dem Zweiten Weltkrieg teilen unsere Länder das Glück, ausschliesslich von befreundeten Staaten umgeben zu sein. Das ist sehr kostbar. Zwischen der Schweiz und Liechtenstein ist es so, dass wir selten Differenzen haben – aber falls doch, gibt es bewährte Instrumente, diese beizulegen. Denn wir arbeiten auf allen Ebenen eng zusammen – mit einem dichten Geflecht an Abkommen. Neben dem Zollvertrag sind es über 100 weitere!

Die Schweiz und Liechtenstein engagieren sich gemeinsam für die weitere Entwicklung der Vier-Länder-Region. Die Kontakte hier sind stark und zukunftsträchtig. Umso grösserer sind derzeit die Herausforderungen für die Weltgemeinschaft. Nach einer Periode mit global positiven Entwicklungen in den 2010er Jahren waren die vergangenen Jahre von einem Rückschritt der Entwicklung geprägt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine brutale Attacke auf ein friedliches Land. Und ebenso sehr ist er eine brutale Attacke auf das Völkerrecht und den Multilateralismus. Um es deutlich zu sagen: Die internationale Gemeinschaft ist brutal vom Kurs abgekommen. Aktuelle Krisen, so dramatisch sie sind, verstellen zudem den Blick auf die grössten Herausforderungen der Menschheit: Den Klimawandel und die globale und innerstaatliche Ungleichheit.

Die Schweiz und Liechtenstein als wohlhabende Staaten packen auch auf internationaler Ebene gemeinsam an. Die Zusammenarbeit im Rahmen der UNO ist hervorragend. Ich denke hier etwa an die Gruppe «Accountability, Coherence and Transparency», die sich für bessere Arbeitsmethoden des UNO-Sicherheitsrates einsetzt. Die liechtensteinische UNO-Mission ist in diesem Gremium eine Schlüsselpartnerin für die Schweiz. Bewundernswert ist auch der Erfolg, den Liechtenstein im Mai 2022 mit seiner «Veto-Initiative» erzielen konnte. Dank der Initiative befasst sich die Generalversammlung automatisch mit einer im Sicherheitsrat aufgrund eines Vetos gescheiterten Entscheidung. Und dann das grosse Engagement des Landes gegen Menschenhandel und moderne Sklaverei. Was die Schweiz betrifft, freuen wir uns, dass wir bei der Wahl in den UNO-Sicherheitsrat ein starkes Mandat der Generalversammlung erhalten haben. Wir werden hart daran arbeiten, dem Vertrauen gerecht zu werden.

Offene Volkswirtschaften wie die Schweiz und Liechtenstein sind auf eine regelbasierte internationale Ordnung unbedingt angewiesen. Internationales Engagement ist wohlverstandenes Eigeninteresse, der berühmte Blick über den Tellerrand, ohne den Politik nicht auskommen sollte. Hier schliesst sich der Kreis zum Zollvertrag und zur Würdigung unserer Vorfahren. Es freut mich, dass wir das 100-Jahr-Jubiläum eines weitsichtigen Abkommens feiern können. Der Zollvertrag war schon bei seinem Entstehen eine Absage an eng verstandene und kleinliche Interessen. Er hat die während Jahrzehnten weiter gewachsene Freundschaft unserer Länder mitbegründet. Und er wirkt im Ergebnis weit über die Grenzen der Schweiz und Liechtensteins hinaus.


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