18. Oktober 2024 | Aargauer Zeitung | en allemand
Interview: Anna Wanner
Die SP-Gesundheitsministerin kontert die Argumente der Gewerkschaften gegen die Gesundheitsvorlage Efas. Und sie will die Anwendung der elektronischen Patientendossiers verbessern – mit dem Vorbild Spanien.
Die Gesundheitsministerin holt sich Rat in Madrid. Elisabeth Baume-Schneider reiste Anfang Woche nach Spanien, um sich mit Gesundheitsministerin Mónica García Gómez zu beraten. Sie wollte wissen, wie das Land unter vergleichbaren Herausforderungen das elektronische Patientendossier umgesetzt hat. Denn auch Spanien kennt starke Regionen, das Gesundheitswesen ist dezentral organisiert. Gleichzeitig verfügt das Land über mehr Erfahrung in der Digitalisierung, seit 2015 gilt die Patientenkarte als Standard. Damals diskutierte das Schweizer Parlament noch über das Gesetz.
Baume-Schneider traf auch Fachvertreter der Ärzteschaft, der Patienten sowie aus der Forschung. Um das Bild zu vervollständigen, unterhielt sich Baume-Schneider auch länger mit der Ministerin für Gesundheit der autonomen Region Madrid, Fátima Matute Teresa. Dabei verdeutlichte sich der Eindruck, dass das Urteil über die Funktionalität des spanischen Patientendossiers sehr unterschiedlich ausfällt.
Frau Bundesrätin, was ist die wichtigste Erkenntnis, die sie aus Madrid mitnehmen?
Elisabeth Baume-Schneider: Das elektronische Patientendossier lässt sich nicht aufzwingen. Wir müssen es vor allem den Menschen näherbringen, die es im Alltag anwenden sollen. Spanien treibt das Projekt schon viel länger voran, unterdessen ist das Patientendossier für viele Realität: Sie nutzen ihre Patientenkarte oder ihre App, wenn sie einen Termin beim Arzt vereinbaren, in der Apotheke mit einem Rezept ein Medikament beziehen oder ins Spital gehen. Die Schweiz hat hingegen einen grossen Rückstand, derzeit hat knapp ein Prozent der Bevölkerung ein elektronisches Patientendossier. Das müssen wir verbessern, wie es der Bundesrat nun mit den jüngsten Entscheiden vorschlägt.
Nach den Gesprächen mit den Gesundheitsexpertinnen Spaniens können Sie sagen: Sind wir auf dem richtigen Weg?
Ja, aber natürlich gibt es noch viel zu tun. Die Änderungen, die wir anstreben, sind fundamental. Erstens soll jede Person in der Schweiz ein EPD erhalten. Dafür wird neu für jede Person automatisch ein EPD eröffnet - mit der Option für ein Opt-out. Es wird also die Möglichkeit geben, auf ein EPD zu verzichten, wenn man kein Dossier wünscht. Zweitens müssen in Zukunft alle Spitäler, Ärztinnen und Ärzte sowie die Pflegenden das Dossier füttern und pflegen. Drittens zentralisieren wir die technische Infrastruktur, um den Datenaustausch auf allen Ebenen zu ermöglichen. Und schliesslich haben wir mit der E-ID einen zuverlässigen Zugang zum EPD, der Sicherheit bei der Identifizierung gewährleistet. Wir schaffen damit ein viel überzeugenderes System, als wir es heute haben.
In Spanien läuft auch nicht alles rund. Beispielsweise in Madrid versucht die regionale Regierung seit zwanzig Jahren ein umfassendes EPD für die Patientinnen und Patienten zu entwickeln. Die zuständige Ministerin Fátima Matute Teresa sprach von einem «Traum», der sich so bald nicht erfüllen wird. Sind Sie nach dem Besuch ernüchtert?
Es dauert sicherlich eine gewisse Zeit, bis ein solches Projekt voll realisiert werden kann. Auch in der Schweiz wird die Gesetzesänderung nicht am Tag eins alle Patientinnen und Patienten dazu bringen, das EPD auch zu brauchen. Wir müssen zeigen, was das Instrument kann und welche Vorteile es bietet. Klar ist aber auch: Ohne das EPD kommen wir nicht weiter. Es ist die Zukunft.
Die Madrilenen haben eine Patientenkarte. Welchen Mehrwert diese bringt, ist nach den Aussagen der Ministerin nicht ganz klar. Auch konkrete Fortschritte konnte sie zuletzt keine ausweisen. Sie sind nicht entmutigt?
Ich sehe, dass es ein langer Weg ist. Aber ich sehe auch, dass wir das Ziel nur durch Dialog und Zusammenarbeit erreichen können. Wir sind uns in der Schweiz eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen gewohnt, hier sehe ich einen Vorteil gegenüber Spanien. Die Regionalministerin von Madrid hat die Differenzen und Konflikte zwischen der nationalen und der föderalen Regierung betont und auch eine Zusammenarbeit mit anderen Regionen verworfen. Wir pflegen einen wertschätzenden Umgang, suchen regelmässig gemeinsam nach Lösungen.
Die Kantone verlangen schon länger, dass der Bund für das Patientendossier mehr Verantwortung übernehmen soll.
Ja, sie wünschen sich mehr Zentralisierung und dass die Kosten hauptsächlich vom Bund getragen werden. Das ist nicht möglich. Trotzdem arbeiten wir weiter zusammen: Der Bundesrat hat festgehalten, dass er eine zentralisierte Infrastruktur für das EPD will.
Wir haben es in fast allen Gesprächen gehört: Die Interoperabilität, das Zusammenspiel verschiedener IT-Systeme ist für den Erfolg zentral. Jetzt hat jedes Spital, jeder Arzt in der Schweiz ein eigenes System. Wäre es nicht besser, zurück auf Feld eins zu rücken, damit das System von Grund auf richtig gebaut werden kann?
Dieser Gedanke ist verlockend. Allerdings würden wir dadurch wertvolle Zeit verlieren. Wir sprechen von mehreren Jahren. Besser ist es darum, auf Bisherigem aufzubauen und einfachere, technische Lösungen zu finden, um die Kommunikation der Systeme zu verbessern. Der Bund wird in diese gemeinsame technische Infrastruktur investieren.
Das ist mutig. Der Bund hat eine unrühmliche Geschichte gescheiterter IT-Projekte. Wieso soll es dieses Mal gelingen?
Es gibt immer ein Risiko. Aber ich bin zuversichtlich: Verschiedene Anbieter werden uns eine technische Lösung vorschlagen. Wir wissen, was wir brauchen. Denn das Patientendossier ist auf gewisse Funktionen beschränkt. Dafür machen wir eine Ausschreibung mit klaren Kriterien und Vorgaben. Der Aufbau einer solchen Plattform ist also klar machbar und realistisch.
Eine Schwierigkeit, die auch die Spanier antrafen, ist, die Gesundheitsakteure dazu zu bringen, das Patientendossier zu nutzen. Die Empfehlung der Spanier lautet: Geld zahlen.
Das ist nicht im Sinn des Projekts. Ärzte und Spitäler werden innerhalb des Tarifsystems für solche Leistungen bereits vergütet. Sobald eine kritische Zahl an Patientendossiers eröffnet sind, werden alle die Vorteile erkennen – etwa, dass Patienteninformationen einfach auffindbar und verfügbar sind. Zwar spüren wir bei manchen Fachleuten – insbesondere bei Ärzten, die nahe an der Pensionierung sind – eine gewisse Skepsis, neue Instrumente auszuprobieren. Aber wir erhalten auch viele positive Rückmeldungen, weil es die tägliche Arbeit vereinfachen wird.
Jemand muss aber den ersten Schritt machen. Warum nicht Prämien verteilen für jene Leistungserbringer, die mit positivem Beispiel vorangehen?
Abgesehen davon, dass es heute schon Spitäler gibt, die das EPD anwenden, werden wir daran festhalten und kein Geld verteilen. Wir investieren in den Ausbau der Infrastruktur und die Sensibilisierung der Menschen. Denn wenn der Patient nach einem Dossier fragt, muss der Arzt dieses auch anbieten. Die Digitalisierung schreitet voran, die Gesundheitsberufe können sich dieser Entwicklung nicht entziehen.
Voraussetzung dafür ist aber, dass die Funktionalität und eine einfache Anwendung gegeben ist. Wenn das Patientendossier nur Mehraufwand bedeutet, wird es nicht angewandt. Sind wir schon so weit?
Das Elektronische Patientendossier ist nicht kompliziert in der Anwendung. Was wir verbessern müssen, ist die Interoperabilität, insbesondere zwischen Spitälern und Ärzten. Wir müssen also sicherstellen, dass alle beteiligten Fachpersonen Zugriff auf das Dossier haben. Ein weiteres Thema wird sein, inwiefern wir die Daten anonymisiert für die Forschung weiterverwenden können. Das ist wichtig für die Schweiz. Weil dadurch auch medizinische Fortschritte möglich sind.
Für die Bevölkerung könnte die Datensicherheit zur Knacknuss werden. Bei früheren Abstimmungen hat sie sich sehr kritisch gezeigt. Wie schaffen Sie Vertrauen?
Mit der staatlichen E-ID werden wir einen sicheren Zugang zum EPD haben. Zudem gehören die Daten alleine der jeweiligen Patientin, dem Patienten. Jede Person entscheidet über die Verwendung, also ob die Daten anonymisiert werden und ob sie für die Forschung verwendet werden dürfen. Wir müssen auch die Vorteile aufzeigen: Der spanische Patientenvertreter hat mir erklärt, wie wertvoll es für die Patienten ist, dank dem EPD die eigene Krankengeschichte zu kennen, weil sie dann eine aktivere Rolle in ihrer Behandlung übernehmen können. Es ist nicht nur ein Instrument für Ärzte und Spitäler, sondern dient der Verbesserung der Sicherheit des Patienten.
Effizienzgewinn gehört auch zu den Versprechen. Spanien hat aber die Erfahrung gemacht, dass Doppelspurigkeiten nicht auszuräumen sind. So haben wir erfahren, machen beispielsweise Ärzte weiterhin ein zweites Röntgenbild, auch wenn schon eines vorhanden ist - nur um ein eigenes zu haben.
Das hat mich überrascht. Aber die Diskussion war spannend, weil sie uns einen guten Einblick in die Herausforderungen gegeben hat. Auch wenn wir Doppelspurigkeiten vermeiden wollen, wir entwickeln das Patientendossier in der Schweiz nicht primär aus einer Kostenlogik. Es geht um höhere Sicherheit, um mehr Koordination, Transparenz und Qualität. Das wiederum sollte sich dann auch positiv auf die Kosten auswirken.
Werden in der Schweiz die Ärzte ebenfalls ein zweites Röntgenbild machen, wenn schon eines vorliegt?
Das gilt es zu vermeiden, wird wahrscheinlich aber auch in der Schweiz hin und wieder passieren. Die meisten Ärzte vertrauen jedoch auf die Arbeit anderer und haben den Willen, die Kosten zu dämpfen.
Im Herbst kommt die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (Efas) zur Abstimmung. Gemäss BAG sollten die Prämienzahler um bis zu 2 Milliarden Franken jährlich entlastet werden. Ist das realistisch?
Die Reform geht von der Finanzierung zwischen 2016 und 2019 aus. Der Anteil der Prämienfinanzierung ist seither gestiegen und dürfte noch weiter steigen. Deshalb wird es zum Zeitpunkt der Umsetzung eine Entlastung der Prämienzahlenden geben. Es handelt sich aber nicht um eine Einsparung, sondern um eine Verlagerung: Während die Kantone, also die Steuerzahlenden, neu einen grösseren Teil der Gesundheitskosten übernehmen, werden dafür die Prämienzahlenden entlastet. Die fundamentale Änderung der Reform ist aber eine andere: Sie begünstigt ambulante Behandlungen. Und auch das hat Vorteile: Je mehr wir ambulant behandeln, je häufiger wir überflüssige Spitalübernachtungen vermeiden, desto tiefer werden die Kosten im gesamten System. Aber ich weiss schon, welche Frage Sie mir jetzt stellen werden.
Welche?
Ob die Prämienzahlenden ab 2032 nicht das Nachsehen haben werden, wenn neben den Kosten von Arztpraxen und Spitälern auch jene der Langzeitpflege einheitlich finanziert werden, wie das die Gegner der Reform sagen.
Und?
Nein. Das stimmt nicht. Das Kostenvolumen im ambulanten Bereich ist vier Mal grösser als jenes der Langzeitpflege und nimmt auch stetig zu. Selbst wenn die Pflegekosten wachsen, wird dieses Wachstum immer noch kleiner sein als der Betrag, den wir dank zusätzlichen ambulanten Behandlungen einsparen werden. Das Wachstum in der Langzeitpflege wird durch mehr ambulante Behandlungen also mehr als kompensiert.
Der Bundesrat kann jetzt schon Behandlungen ambulant vor stationär verordnen. Wäre das nicht der einfachere Weg als über eine Megareform?
Die Reform ist sinnvoll. Sie gewährleistet, dass die Finanzierung aller Gesundheitsleistungen in allen Lebensphasen nach dem gleichen Schlüssel aufgeteilt ist. Jetzt führt die unterschiedliche Finanzierung zu Fehlanreizen und Ungleichheit. Wieso zahle ich als Versicherte im Spital wenig und beim Arzt alles? Darüber hinaus werden wir die Kostenentwicklung sehr eng begleiten. Und wenn unerwünschte Effekte auftreten, kann das Parlament jederzeit nachjustieren.
Hört man Ihnen zu, hat die Vorlage nur Vorteile. Können Sie nachvollziehen, wieso Teile Ihrer Partei die Reform ablehnen?
Ich verstehe die Argumente, aber sie treffen den Kern der Reform nicht. Beispielsweise bin ich extrem sensibel bei der Frage der Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals. Dafür setzen wir die Pflegeinitiative um. Die einheitliche Finanzierung wird die Arbeitsbedingungen nicht verschlechtern. Wenn künftig weniger Personen im Spital übernachten, können sich die Teams besser organisieren, es braucht weniger Nachtschichten. Das Gleiche gilt für das Argument der befürchteten Übermacht der Krankenkassen, über die neu mehr Leistungen abgerechnet werden. Doch bereits heute verantworten sie Milliardenbeträge und werden bei dieser Aufgabe vom Bundesamt für Gesundheit beaufsichtigt. Neu erhalten aber die Kantone mehr Möglichkeiten zur Steuerung, weil sie im ambulanten Bereich künftig mitzahlen.
Wäre ein Scheitern schlimm?
Das wäre eine schlechte Nachricht für die Prämienzahlenden. Ein Nein würde heissen, dass wir nichts dagegen unternehmen, dass sie immer mehr für die Gesundheitsleistungen aufwenden müssen. Im Gegenzug heisst das Ja, dass die Verlagerung von der Steuer- zur Prämienfinanzierung gestoppt wird. Die Steuerfinanzierung ist sozial gerechter als die Kopfprämie.
Sie verantworteten sieben Abstimmungen dieses Jahr. Wenn alles gut geht, haben Sie Anfang 2025 endlich Raum für Gestaltung. Was packen Sie an?
Vor uns liegt die Diskussion der Finanzierung der Sozialversicherungen, vorab der 13. AHV-Rente. Wir haben das Kostendämpfungspaket im Gesundheitswesen, das wir abschliessen wollen, und die Diskussionen um das elektronische Patientendossier, die ins Parlament kommen. Was mir persönlich noch am Herzen liegt, ist die Grundversorgung: Die Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte sollen wieder stärker im Zentrum der Versorgung stehen.
Dernière modification 23.10.2024
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