«Bio ist nicht für alle erschwinglich»

Tages-Anzeiger – 04.09.2018

Tages-Anzeiger: Herr Bundespräsident, kommt zu Hause bei Familie Berset jeweils Fair Food auf den Tisch?

Alain Berset: Sie meinen, ob wir nur importierte Produkte essen, die den Standards der Fair-Food-Initiative entsprechen? Nein, in diesem Sinn nicht. Da hätten wir kaum je eine Banane gegessen. Wir versuchen aber, uns gut und ausgewogen zu ernähren, und achten auf die Herkunft der Lebensmittel. Fairness ist auch immer eine Frage von Transparenz. Man muss wissen, was man kauft.

Die Initiative verlangt «umwelt- und ressourcenschonende», «tierfreundliche» und unter «fairen Arbeitsbedingungen» hergestellte Lebensmittel. Wie kann man dazu Nein sagen?

Der Bundesrat will zu einem grossen Teil dasselbe wie die Initianten. Aus diesem Grund ­haben wir zu einer früheren Agrar-Initiative einen direkten Gegenvorschlag erarbeitet: den Verfassungsartikel zur Ernährungssicherheit. Es ist nicht ­einmal ein Jahr her, dass wir darüber abstimmten. Und jetzt kommen schon wieder zwei Agrar-Initiativen an die Urne: Fair Food und Ernährungssouveränität. Es ist einfach viel zu früh, in diesem Bereich schon wieder mit etwas Neuem zu kommen.

Sie meinen also, die Anliegen der Fair-Food-Initianten seien schon erfüllt?

Ich meine, wir haben auf Verfassungsstufe alles getan, was wir tun müssen. Wenn es Lücken gibt, soll das Parlament die entsprechenden Gesetze anpassen. Der einzige Aspekt der Fair-Food-Initiative, den wir nicht aufgreifen wollen, betrifft die Kontrollen im Ausland. Unser Ziel ist, die Transparenz zu verbessern: Das ist effizienter als der Versuch, alle Länder der Welt auf unsere Massstäbe zu verpflichten und ihnen zu erklären, wie sie ihre Lebensmittel herzustellen haben.

Der Bundesrat behauptet ­ja vor allem, dass wir Verträge verletzen würden ...

Es ist ganz einfach: Wir haben mit vielen Ländern Abkommen, die uns Märkte erschliessen. Das bedeutet, wir anerkennen die Produktionsstandards dieser Länder, und sie anerkennen die unsrigen. Wir würden es nicht akzeptieren, wenn die anderen uns Vorschriften machen wollten und drohten, unsere Produkte zu sperren. Im übrigen stellen wir ein Promille der Weltbevölkerung. Niemand wird eigens für uns seine Landwirtschaft umkrempeln.

Die Initianten sagen, eine völkerrechtskonforme Umsetzung sei möglich. Der Initiativtext verlange nicht, ­der ganzen Welt Schweizer Standards aufzuzwingen.

Schauen wir die Realität an: Internationale Standards für fair produzierte Lebensmittel gibt es nicht. Wir müssten also eigenmächtig Schweizer Standards festlegen und diese dann den anderen Ländern schmackhaft ­machen.

Die Völkerrechtlerin Elisabeth Bürgi sieht es anders: Es gebe sehr wohl internationale Standards – im Sozialbereich etwa die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation.

Es geht in der Initiative um weit mehr als um die Arbeitsbedingungen. Zudem sind die Standards der angesprochenen Übereinkommen tiefer als die unsrigen im Sozialbereich. Und in vielen der betroffenen Bereiche fehlen internationale Standards, das ist eine Tatsache.

Was verstehen denn Siepersönlich unter «fair»produzierter Nahrung?

Meine persönliche Definition ist nicht von Belang. Ich bin aber der Meinung, dass wir in unserem Land eine sehr gute Situation haben. Unsere Landwirte leisten hervorragende Arbeit. Die Qualität der Produkte ist hoch, die Standards beim Tierschutz ebenso. Darauf können wir stolz sein.

Würden Sie die Initiative bei einem Ja mit Marktabschottung umsetzen? Oder mit offenen Grenzen für «Nachhaltiges» – und damit als Provokation für die Schweizer Bauern?

Was das Parlament beschliessen würde, weiss ich nicht. Ich rate, die Initiative abzulehnen. Wir hatten in den letzten Jahren immer wieder mal Initiativen, bei denen es hiess: Stimmen wir Ja, irgendwie lässt es sich dann schon umsetzen. Unsere Erfahrungen damit waren nicht gut.

Economiesuisse sagt, bei einem Ja würden die Lebensmittel um bis zu 50 Prozent teurer. Das ist doch ein übertriebenes Horrorszenario.

Ich übernehme keine Verantwortung dafür, was Economiesuisse sagt. Wir haben im Bundesbüchlein keine Zahlen genannt. Da muss man in der Tat vorsichtig sein. Was klar ist: Die Initiative wird die Preise sicher nicht nach unten drücken. Es wird gegen oben gehen. Und wahrscheinlich würde die Auswahl an Produkten kleiner, weil manches nicht mehr importiert werden dürfte.

Aber wir hätten doch immer noch Bananen und Orangen – wohl einfach in Bio-Qualität.

Wenn wir hier nur noch Bio-Orangen und -Bananen hätten, wäre die Auswahl kleiner. Und wir dürfen nicht vergessen, dass bio teurer ist. Es gibt in unserem Land Menschen, die am Ende des Monats genau durchrechnen müssen, was sie sich leisten können. Bio ist nicht für alle erschwinglich.

Ihre Partei, die SP, vertritt bei der Fair-Food-Initiative eine andere Meinung als Sie ...

... nicht zum ersten Mal ...

... aber Hand aufs Herz: Sie sind verpflichtet, die Position des Bundesrats zu vertreten. Wären Sie noch Ständerat, würden Sie der Initiative zustimmen?

Ich bin schon lange nicht mehr Ständerat. (lacht) Aber ich glaube, ich hätte die Initiative auch als Ständerat abgelehnt. Es gibt ja nicht wenige Befürworter, die durchaus sehen, welche Probleme die Initiative verursachen könnte. Sie bauen darauf, dass man dann irgendeine Lösung findet. Ich war und bin jedoch der Meinung, dass die Verfassung kein Spielzeug ist. Ich lehne die Initiative aus Überzeugung ab.

Ist es für Sie eine neue Erfahrung, dass Sie sich neben Sozialversicherungen nun auch mit Landwirtschaftsfragen beschäftigen müssen?

Das Departement des Innern ist so vielfältig, dass das für mich nichts Neues ist. Ich kenne die Anliegen der Landwirtschaft auch aus persönlicher Erfahrung. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es viele Bauern. Ich bin mit ihren Kindern zur Schule gegangen und lebe bis heute in der Nähe einer Molkerei, wo die Bauern ihre Milch abliefern. Ich hatte auch politisch immer wieder mit der Landwirtschaft zu tun. Zuletzt war ich etwa beim neuen Lebensmittelgesetz stark engagiert.

Als Bundespräsident haben Sie ohnehin vielfältige Aufgaben. Nächste Woche treffen Sie den französischen Präsidenten. Was werden Sie mit Emmanuel Macron besprechen?

Wir pflegen mit Frankreich ­sehr enge Beziehungen. In der Schweiz leben rund 130'000 Französinnen und Franzosen. In Frankreich lebt die grösste schweizerische Gemeinschaft ausserhalb der Schweiz. Es gibt viel zu bereden, insbesondere die Beziehungen zur EU und das Rahmenabkommen.

Seit Monaten bestimmen die beiden FDP-Bundesräte die öffentliche Debatte über das Rahmenabkommen. Hätten Sie als Bundespräsident in diesem Dossier nicht sichtbarer die Führung übernehmen sollen?

Der Bundesrat handelt als ­Gremium, und wir legen fest, wer in welchem Geschäft die Federführung hat. Ich habe mich in den letzten Jahren für das Rahmenabkommen immer stark ­engagiert.

Die Gewerkschaften werfen Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis vor, mit dem Angriff auf die flankierenden Massnahmen die «rote Linie» des Bundesrates überschritten zu haben. Wie sehen Sie das?

Es gibt ein Verhandlungsmandat des Bundesrates und die roten Linien. Diese Linien sind Anfang Juli bekräftigt worden. Sie gelten unverändert.

Und sie wurden von den beiden FDP-Bundesräten nicht überschritten?

Ich gehe nicht davon aus.

Der Gewerkschaftsbund hat die Gespräche über die flankierenden Massnahmen platzen lassen. Haben Sie Verständnis dafür?

Es ist da eine sehr schwierige Situation entstanden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass heute die Diskussionen nicht laufen.

Die Bundespräsidentschaft gilt als Karrierehöhepunkt. 2019 endet die Legislatur. Werden Sie bald eine neue Herausforderung suchen?

Sie wollen wissen, ob ich mich 2019 der Wiederwahl als Bundesrat stelle? Dem ist in der Tat so.

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