«Nemo wirkt nicht aktivistisch, aber engagiert»

18 maggio 2024 | Neue Zürcher Zeitung | in tedesco
Intervista: Andreas Scheiner

Elisabeth Baume-Schneider ist begeistert vom nonbinären ESC-Star. «Wegen mir muss nicht in der ID stehen, ob ich eine Frau, ein Mann oder they bin», sagt sie im Interview mit Andreas Scheiner. Zu Gast am Festival in Cannes lobt sie auch den Schweizer Film.

Frau Baume-Schneider, haben Sie noch einen Ohrwurm vom vergangenen Wochenende?
Ja, der «Code» ist noch im Ohr - und im Herzen. Eine sehr schöne Sache ist dieser Erfolg beim ESC. Nemo ist noch jung, erst 24 Jahre alt, aber bemerkenswert gereift. Nicht nur als Künstler, sondern auch als nonbinäre Person. Ich habe das Siegerinterview geschaut, mittten in der Nacht. Nemo wirkte nicht aktivistisch, aber engagiert. Eine beeindruckende Persönlichkeit.

Was heisst «nicht aktivistisch, aber engagiert»? Immerhin hatte er bei der sogenannten Flaggenparade des ESC eine Nonbinären-Fahne dabei. Das lässt ihn schon als Aktivisten erscheinen.
Ich kenne Nemo nicht näher. Wir haben nur ein paar Minuten telefoniert. Aber ich habe einen Sohn, der auch 24 Jahre alt ist, und ich habe gedacht: «Das ist schon unglaublich, was Nemo in dem Alter erlebt, wie erwachsen Nemo ist und wie ruhig.» Aktivistisch wäre es für mich, wenn Nemo jetzt einfach verlangen würde: «Dies, dies, dies muss sofort passieren!» Aber wenn Nemo mit Beat Jans, meinem Kollegen im Justizdepartement, über Themen sprechen möchte, die Nemo ein Anliegen sind, finde ich das den richtigen Weg. Nemo weiss, was Nemo wichtig ist als nonbinäre Person.

Worüber haben Sie beide am Telefon gesprochen?
Das wäre jetzt zu persönlich. Ich habe jedenfalls gesagt, dass Nemo viel Freude gebracht habe, aber jetzt auch zu sich selbst schauen müsse. Nach so einem Erlebnis muss man sich die Zeit nehmen, um wieder auf die Erde zurückzufinden. Nemo dürfte müde sein, auch im Kopf.

Beat Jans ist also gesprächsbereit, was die Einführung eines drittes Geschlechts angeht. Cédric Wermuth hat auf X geschrieben: «So geht SP-Politik!» Was soll das heissen, wie geht SP-Politik?
Ich kann nicht für Cédric Wermuth antworten. Kunst ist nicht dasselbe wie institutionelle Politik. Aber ich bin überzeugt, dass Kunst immer eine politische Dimension hat. Und dann ist es an der Politik, Verantwortung zu übernehmen.

Bei aller Nemo-Liebe hat der Bund beschlossen, die Austragung des ESC im nächsten Jahr nicht zu finanzieren. Weshalb?
Wir haben gar nichts beschlossen. Das war eine Antwort vom Bundesamt für Kultur, dabei gab es noch nicht einmal eine Anfrage. Die Diskussion hat noch nicht stattgefunden.

Stimmt es, dass das «Blutbuch» von Kim de l'Horizon Ihr Erweckungserlebnis war für nonbinäre Anliegen?
Nicht Erweckungserlebnis. Über Nonbinarität weiss ich schon lange Bescheid. Was mich an diesem Buch beeindruckt hat, ist die Sprache, mit der Kim de l'Horizon nicht zuletzt über die Grossmutter schreibt und darüber, wie es zwischen Generationen möglich ist, zu erklären, wer man ist.

Ist Nonbinarität nicht ein Modethema?
Früher hat man gesagt, jemand sei «androgyn», und damit hatte es sich. Es geht nicht um Moden. Ob es nun Frauen sind, nichtbinäre Personen, Transpersonen, die gesamte LGBTI-Community: Alle sollen sich respektiert und sicher fühlen und in der Lage sein, im Einklang mit ihrer Geschlechtsidentität zu leben.

Aber muss sich die Politik jeder Befindlichkeit annehmen?
Nonbinarität ist keine Befindlichkeit. Das sind keine Moden. Vergangenes Jahr habe ich Ernst Ostertag getroffen. Er ist eine geschichtsträchtige Figur in der Schwulengemeinschaft. Wenn ich sehe, was er durchgemacht hat, in Zürich! Vor zwanzig Jahren waren sein Partner und er das erste eingetragene homosexuelle Paar im Kanton Zürich. Wir haben uns zum Essen getroffen, er ist vierundneunzig Jahre alt und geprägt von seinem Kampf. Das war auch nicht einfach ein Trend. Die Ehe für alle schien lange undenkbar, und dann sagte die Bevölkerung Ja.

Ein drittes Geschlecht hätte konkrete Folgen. Wie würde etwa der Militärdienst gehandhabt?
So weit sind wir in der Diskussion nicht. Es geht jetzt darum, die Schwierigkeiten zu anerkennen, mit denen nichtbinäre Menschen konfrontiert sind. Ich kenne solche Menschen. Es ist schmerzhaft, nicht im Einklang mit dem zugewiesenen/offiziellen Geschlecht zu leben. Sich damit auseinanderzusetzen, ist nicht einfach. Man wacht nicht morgens als Mann oder Frau auf und entscheidet sich mal eben, nonbinär zu sein. So ist das nicht. Das müssen wir erst einmal sehen und verstehen. Dann können wir diskutieren: Muss es etwa Pflicht sein, auf gewissen Dokumenten ein Geschlecht anzugeben? Wir sind noch nicht so weit zu sagen, wie zum Beispiel die Dienstpflicht ausgestaltet sein müsste.

Wieso nicht gleich alle Geschlechter abschaffen?
Das ist meine persönliche Haltung: Wegen mir muss in der ID nicht stehen, ob ich eine Frau, ein Mann oder they bin. Ich bin Elisabeth Baume-Schneider.

Frau Baume-Schneider, um nun auf Cannes zu sprechen zu kommen: «Who are you wearing?»
Who am I ...? Wie meinen Sie das?

Das ist eine Cannes-Frage, man fragt das hier so: Welchen Designer tragen Sie? Prada, Louis Vuitton?
Ach so. Nein, nein, nichts davon, haha. Ich bin zum ersten Mal hier am Festival, da müssen Sie Nachsicht haben mit mir. Ich habe aber ein sehr schönes Kleid, das ich anziehen werde.

Welche Filme haben Sie geprägt?
Ich erinnere mich, sehr früh ins Kino gegangen zu sein. Damals musste man drei Monate warten, bis es ein Film aus Genf nach La Chaux-de-Fonds schaffte. In La Chaux-de-Fonds war es dann fast ein Fest, wenn man ins Kino ging. Auch mit einem Date ging man hin. Ich mochte Fellini, «E la nave va». Den Schweizer Film fand ich auch immer interessant. Er hat leider den Ruf, manchmal ein bisschen langweilig zu sein, aber das ist er nicht. Vor ein paar Jahren habe ich mit meinen Söhnen «Platzspitzbaby» geschaut. Sie waren erstaunt, wie gut der Film ist.

Haben Sie «Bon Schuur Ticino» gesehen?
Ja, wir sind auch mit den Söhnen rein. Ein lustiger, liebevoll gemachter Film. Und es war für uns als Minderheit wirklich amüsant zu schauen, wie alle Französisch lernen müssen und es gar nicht so einfach ist.

Hier in Cannes waren Sie im neuen Film von Francis Ford Coppola. Kennen Sie seine Werke, die «Godfather»-Reihe?
Ja, ich kenne einige. Eigentlich bin ich nicht so ein ganz grosser Fan. Ich bevorzuge etwa Tarantino. Aber ich finde es schön, zu sehen, dass er sich trotz fortgeschrittenem Alter mit einem so engagierten Werk zurückmeldet. «Megalopolis» ist ein manchmal düsterer Film, der uns mahnt, das Fundament unserer offenen Gesellschaft zu verteidigen, aber er macht auch Hoffnung.

Die Schweiz ist das Gastland auf dem Filmmarkt in Cannes und präsentiert sich als innovativer Hub, etwa mit KI-Lösungen für Drehbücher. Aber bei den Filmen im Programm ist man auch dieses Jahr untervertreten. Wieso bleib der Erfolg aus?
In Cannes sind wir mit drei Filmen in den Wettbewerbsreihen vertreten, das ist durchaus ein Erfolg. Aber es ist auch wichtig, dass wir uns hier auf dem Markt als innovative Filmszene präsentieren können. Filme entstehen nicht von heute auf morgen. Man muss sich auch nicht schämen dafür, dass der Schweizer Film vor allem in Koproduktionen anerkannt wird. Wir sind ein kleines Land und haben das Glück - das gleichzeitig eine Einschränkung ist -, vier Sprachregionen zu haben. Im Film bedeutet das, dass wir auf Koproduktionen ausgerichtet sind. Die französischsprachige Schweiz ist geprägt vom französischen Kino und sucht Koproduktionen mit Belgien, Frankreich, Kanada. In der deutschsprachigen Schweiz richtet sich alles eher nach Deutschland und Österreich auch. Bei den Koproduktionen sind wir sehr erfolgreich.

Wieso haben wir kaum namhafte Schweizer Filmemacher?
Wir haben Regisseurinnen wie Ursula Meier, die auf der internationalen Bühne anerkannt ist und auch mit einer Schauspielerin wie Isabelle Huppert arbeiten kann. Vergessen wir ausserdem nicht die Qualität von Dokumentarfilmen, darin sind wir sehr stark. Und jetzt, mit den neuen Finanzierungsmöglichkeiten, der Investitionspflicht für Streamingplattformen, wird es auch möglich sein, Partner zu finden, die den Schweizer Film breiter aufstellen.

Wissen Sie, wie viele Kinos es noch im Jura gibt?
Oh, im Jura gibt es sehr viele. Allein in den Freibergen und im Grand Chasseral gibt es eines in Le Noirmont, eines in Les Breuleux, dann in Tramelan, in Saint-Imier und Tavannes. In Delsberg gibt es sogar einen Kinokomplex, in Moutier ... Mit den Kinos da ist es super. Aber es ist natürlich auch günstig. In meinem Dorf kostet der Eintritt zehn Franken.

Leidet unter der Lex Netflix nun nicht das Kino? Denn Streaminganbieter produzieren in erster Linie für Streaming.
Das tun sie, stimmt. Aber man sollte nicht denken, dass es ein Entweder oder ist. Beim Film funktioniert mittlerweile vieles im Zusammenspiel von Kinos, Festivals und Streamingplattformen. Wenn man sich sträubt gegen die Plattformen, verliert man auch ein jüngeres Publikum, das Filme mittlerweile so konsumiert. Man muss die Liebe zum Kino auch wieder wecken. Dafür gibt es mehrere Wege.

Wie kann es sein, dass einer der erfolgreichsten Filmregisseure des Landes, Michael Steiner, immer wieder auf Arbeitslosengelder angewiesen ist?
In der Kulturbotschaft, die nun an das Parlament verabschiedet ist, konzentrieren wir uns nicht zuletzt genau darauf, die Arbeitsbedingungen von Künstlern zu verbessern.

Bildet die Schweiz zu viele Künstler aus?
Nein.

In der ersten Fassung der Kulturbotschaft war das zu lesen. Dann gab es Protest aus der Kulturszene. Nun ist die Passage nicht mehr drin, kann das sein?
Es ist so, Sie haben recht. Denn in der Vernehmlassung haben die Künstler und auch die Kantone gesagt: Nein, es gibt nicht zu viele Abgänger. Und das deckt sich mit meiner Einschätzung, ich war selber Direktorin einer Fachhochschule. Die Leute aus künstlerischen Studiengängen brauchen zwar im Schnitt mehr Zeit, um Arbeit zu finden. Aber dann gibt es nicht eine höhere
Arbeitslosigkeit. Wer etwa Fotografie studiert, wird nicht zwingend Künstler, sondern kann zum Beispiel auch ins Marketing gehen.

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