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Interviews, vidéos et articles invitésPublié le 19 mars 2025

«Zu Hause habe ich Schweizerdeutsch gesprochen, im Dorf aber nie, Schweizerdeutsch war die Sprache Berns»

Der Jura feiert am Sonntag 50 Jahre Unabhängigkeit. Wie der Kanton tickt, sagt Elisabeth Baume-Schneider – die erste Bundesrätin aus dem jungen Kanton.

22. Juni 2024 | Tages-Anzeiger
Interview: Philippe Reichen, Philipp Loser

Der Jura ist nicht zu übersehen, auch hier nicht, mitten in Bundesbern. Das repräsentative Sitzungszimmer im Eidgenössischen Departement des Inneren (unter den Vorgängern eine eher dunkle Angelegenheit) wurde vom jurassischen Künstler Augustin Rebetez neu gestaltet. Holzschnitte, Mobiles – fröhlich, farbig, verspielt. Elisabeth Baume-Schneider, die erste jurassische Bundesrätin in der Geschichte des Bundesstaats, hat Rebetez freie Hand gelassen. Ihr gefällt, dass das Zimmer etwas speziell aussieht, nicht nullachtfünfzehn. «Das ist der jurassische Esprit», sagt Baume-Schneider – und redet dann entspannt über sich, ihre Familie und die Jurafrage, die seit exakt 50 Jahren geklärt ist (mehr oder weniger).

Frau Bundesrätin, dieses Wochenende feiert der Jura sich selbst. Am 23. Juni 1974, vor 50 Jahren, votierten die Jurassierinnen und Jurassier für die Gründung eines eigenen Kantons. Wie erlebten Sie den wichtigsten Tag in der Kantonsgeschichte?

Alors, ich war neun Jahre jung. Der Tag der Abstimmung war einzigartig. Schon der Abstimmungskampf war voller Emotionen. Auf jedem Auto klebte ein Ja- oder ein Nein-Sticker. Auf den Klebern der Befürworter stand: «Im Jura redet man Französisch.» An den 23. Juni selbst habe ich keine sehr präzisen Erinnerungen mehr, aber an den Tag danach. Ich ging zu einer Freundin zum Mittagessen. Ihre Familie war für die Autonomie, meine nicht. Es gab Weisswein, um die Kantonsgründung zu feiern. Auch für uns Kinder.

Sie haben mitgetrunken?

Ja! Aber nicht viel. Aus einem Gläschen mit dem Jura-Wappen, wie ich es noch heute habe.

Warum feiert der Jura eigentlich den 23. Juni 1974 als Tag der Kantonsgründung, staatsrechtlich existiert er doch erst seit dem 1. Januar 1979?

Das war der Tag, an dem die Bevölkerung für die Unabhängigkeit votierte, wenn man das so sagen kann. Der 23. Juni 1974 war der Tag der Emotionen. Am 1. Januar 1979 trat die Kantonsverfassung in Kraft. Ein eher institutioneller Akt.

Ihre Grosseltern waren Landwirte aus dem Berner Jura. Bei Ihnen zu Hause wurde Berndeutsch gesprochen. Wie wurde die Jurafrage diskutiert?

Meine Eltern waren schon etwas besorgt. Wir hatten Berner Wurzeln, waren Protestanten. Wir gehörten also einer Minderheit an. Meine Eltern waren gegen die Kantonsgründung, aber nicht militant. Und sie waren immer bestrebt, uns zu integrieren.

Wie äusserte sich das im Alltag?

Ich hatte protestantischen Religionsunterricht, während alle meine Freundinnen Katechismuslektionen besuchten. Irgendwann liessen mich meine Eltern auch zum Katechismus, weil sie nicht wollten, dass ich ausgeschlossen werde. Sie achteten auch darauf, dass die Familie wegen der Jurafrage nicht auseinanderbrach, wie es sonst oft geschah. Die Politik sollte die Familie nicht entzweien.

Hat man zur Jurafrage dann einfach geschwiegen?

Nein. Die Jurafrage konnte man nicht einfach so ignorieren. Mein älterer Bruder war eher pro Bern. Wenn meine Schwester aus dem Haus ging, trug sie projurassische Pullover unter ihrem normalen Pulli. Da war schon Potenzial für Konflikt. Als nach der Abstimmung vom 23. Juni 1974 die Jurafrage demokratisch geklärt war, akzeptierten meine Eltern das. Mein Vater wurde später in den Gemeinderat gewählt und engagierte sich für den neuen Kanton.

Wie wichtig war die Sprache, in der man über die Jurafrage diskutierte?

Zu Hause habe ich Schweizerdeutsch gesprochen, im Dorf aber nie. Schweizerdeutsch war die Sprache Berns, und Bern galt damals als der Unterdrücker. Der Kampf für den Jura war ein identitärer Kampf, für die Sprache, für die Anerkennung einer Kultur, eines Volks.

Was ist das genau, die jurassische Identität?

Das kommt darauf an, wo man im Jura wohnt. In den Freibergen ist die Verbundenheit mit der Natur und der Uhrmacherindustrie wichtig. Historisch war auch der Kampf gegen den Waffenplatz (in Les Genevez, Anm. d. Red.) identitätsstiftend. Im gesamten Jura gibt es ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, man ist stolz auf Gemeinsamkeiten, zum Beispiel die Tatsache, einer Sprachminderheit anzugehören. Die Leute eint auch das Bewusstsein, dass der Jura immer spät von staatlichen Investitionen profitiert hat und stets als absolute Randregion behandelt wurde. Unsere Identität hat sich rund um Fragen der Freiheit, Autonomie und Offenheit gebildet. Das hat sich auch in unserer Verfassung niedergeschlagen. Sie war 1979 extrem progressiv. Wir hatten beispielsweise das erste Gleichstellungsbüro der Schweiz.

Trotzdem merkt man im Gespräch mit Bernerinnen und Bernern, dass die Abkehr des Jura offene Wunden hinterlassen hat. Den 2021 in Moutier getroffenen Entscheid, den Kanton zu wechseln, nimmt man nicht gleichgültig hin.

Wo sind diese Leute? In meinem Berner Bekanntenkreis ist man vielleicht nicht euphorisch über den Kantonswechsel von Moutier, aber man vergiesst darüber auch keine Tränen. Ich habe nicht das Gefühl, dass es einen heftigen Trennungsschmerz gibt. Das war auch mein Eindruck, als ich als Mediatorin den Kantonen Bern und Jura dabei half, ein Konkordat zum Kantonsübertritt von Moutier auszuhandeln.

Wie ist denn das Verhältnis des Jura zur Schweiz heute?

Bei meinen Kontakten spüre ich viel Zuneigung gegenüber dem Jura. Auch die Zusammenarbeit läuft sehr gut, sowohl mit Bern fédéral wie auch mit unseren Nachbarkantonen. Als Bildungsdirektorin habe ich beispielsweise die erste zweisprachige Maturität der Schweiz geschaffen, gemeinsam mit dem Gymnasium in Laufen.

Das Beispiel mit dem Gymnasium zeigt: Da hat sich einiges geändert.

Die Sprachfrage war früher vielleicht stärker nationalistisch aufgeladen. Ich war immer für die Pflege der jurassischen Zusammengehörigkeit, aber dagegen, dass man sich dem anderen verschliesst. Wir überzeugten die jurassische Politik von der zweisprachigen Maturität, indem wir sagten: Deutsch ist die Sprache unserer Nachbarn, der Basler, der Solothurner, nicht nur der Berner. Die Sprache der Nachbarn zu beherrschen, kann auch wirtschaftlich extrem wichtig sein. Und es geht ja in beide Richtungen: Unsere Nachbarkantone haben auch Frühfranzösisch in der Schule.

Kürzlich gab die jurassische Regierung bekannt, man habe drei externe Experten beauftragt, 20 Millionen Franken Mehrerträge zu finden. Als Ersatz für die Nationalbank-Millionen, die der Kanton kurioserweise noch budgetiert hatte. Man hat ein bisschen das Gefühl, dass der Jura zwar vor 50 Jahren seine Unabhängigkeit beschlossen hat, dass man aber eigentlich immer noch sehr abhängig ist von anderen, vom Bund, von der Nationalbank oder eben von Experten aus anderen Kantonen, um die doch sehr bescheidene Summe von 20 Millionen Franken zu finden.

Es klingt in dieser Frage eine gewisse Arroganz an. Ich kommentiere Entscheide der jurassischen Regierung nicht, aber dass Sie den Kanton Jura lächerlich machen, weil er die Nationalbank-Millionen budgetiert hat, finde ich anmassend. Der Kanton Jura ist bei weitem nicht der einzige Kanton, der mit den Millionen der Nationalbank rechnete und jetzt umdisponieren muss. Das haben Deutschschweizer Kantone auch getan! Und 20 Millionen, das ist viel Geld für einen kleinen Kanton.

Haben Sie das Gefühl, die Deutschschweizer würden etwas auf die Jurassier herabschauen?

Normalerweise nicht. Wenn Fragen so formuliert sind, aber schon!

Frau Bundesrätin! Die Mitteilung der jurassischen Regierung war tatsächlich etwas speziell. Wir wollten uns nicht lustig machen!

Nun gut. Egal. Prochaine question! (sie lacht)

Wie wichtig war es für den Jura, dass Sie als erste Jurassierin Bundesrätin wurden?

Das müssen sie die Leute fragen! Zu Beginn waren viele kritisch – als ich mich dann aber zu einer Kandidatur entschlossen hatte, spürte ich eine grosse Unterstützung, von Menschen aus allen Parteien. Ich glaube, für den Kanton Jura hatte meine Wahl schon eine Bedeutung, weil es auch eine Anerkennung war.

Ihre Wahl als letzter Integrationsschritt des Jura?

Das nicht, es gibt ja durchaus noch offene Fragen, aber ein weiteres Integrationsschrittchen vielleicht. Die Menschen, die nach der Wahl auf den Bundesplatz gekommen sind und dann auch nach Delémont, hatten so eine Freude und einen Stolz. Es war schön, an der Feier zu meiner Wahl die Schweiz für einmal in den Jura einladen zu dürfen.

Sie haben uns erzählt, dass Ihre Familie ursprünglich probernisch war. Die Familie Ihres Mannes war dagegen sehr aktiv in der Autonomiebewegung – gab es da nie Friktionen, auch nach Ihrer Wahl?

Mein Schwager war tatsächlich sehr aktiv, noch aktiver war aber ein Cousin meines Mannes, Jean-Marc Baume, er war der Chef der Béliers, der Widerstandsorganisation, und war in viele Dinge involviert, auch beim ersten Verschwinden des Unspunnen-Steins spielte er eine Rolle. Aber damals kannten mein Mann und ich uns noch nicht. Als die Jurafrage am virulentesten war, war ich noch ein Kind. Nach der Gründung des Kantons stellten sich diese Fragen nicht mehr. Auch nicht in meiner Familie. Wir waren Jurassier und stolz darauf.

Sie selber waren auch dabei, als es darum ging, einen neuen Grosskanton Jura zu gründen – mit dem Berner Jura.

Ja, und ich war erstaunt, wie deutlich diese Idee 2013 von den Bernern abgelehnt wurde. Persönlich hatte ich nicht den Eindruck, das Lebensgefühl in Tramelan im Berner Jura sei ein total anderes als in Les Breleux, fünf Kilometer weiter westlich – aber die Unterschiede bei der Abstimmung waren massiv. Das Schöne an unserem System: Am Schluss konnte jede Gemeinde für sich selber Ja oder Nein sagen. Der Entscheidungsprozess war sehr raffiniert, sehr genau. Darum wird Moutier ja künftig zum Kanton Jura gehören.

Ein Schweizer Botschafter hat die Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit von Moutier einmal als «Wunder der Schweiz» bezeichnet. Hier könne man noch darüber abstimmen, wo man hingehöre, ohne Blut zu vergiessen. Sehen Sie das auch so?

Als Wunder würde ich es nicht bezeichnen – es ist einfach Ausdruck für eine Bevölkerung, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist und entsprechend handelt. Gleichzeitig macht es uns auch stolz, dass es so gelungen ist. Nicht überall können sich sprachliche Minderheiten durchsetzen. Die Freiheit der Völker, die Freiheit, selber Entscheidungen zu treffen – das ist etwas, was den Jura und seine Bewohnerinnen und Bewohner sehr beschäftigt.

Wie prägt es die eigene Politik, wenn man aus einem kleinen Kanton kommt? Wenn man die Minderheit repräsentiert?

Man lernt, mit anderen Beziehungen aufzubauen – weil man als Vertreterin eines kleinen Kantons immer auf Partner angewiesen ist. Wir müssen überzeugen und können nicht einfach befehlen – das ist eine Stärke. Gleichzeitig kann man als kleiner Kanton viele Dinge ausprobieren, die anderswo nicht gingen. Wir waren zum Beispiel der erste Kanton mit einer Theater-Matura.

Aus diesen 50 Jahren Unabhängigkeit – was nimmt da die Schweiz mit?

Dass die Demokratie lebendig ist und nicht nur ein Text auf einem Blatt Papier. Dass die Meinungsfreiheit in der Schweiz tatsächlich existiert, die Achtung von Minderheiten. Auch welche Kraft die Demokratie haben kann. Ich kann mich gut an die erste Abstimmung in Moutier erinnern, jene, die nachher noch einmal wiederholt werden musste. An diesem Tag kamen Tausende Menschen mit jurassischen Fahnen nach Moutier, da war so eine Freude, so eine Energie!

Ähnlich wie bei der Abstimmung 1974?

Ja! «Il pleut la liberté», hat Roger Schaffter, der Mitgründer des «Rassemblement jurassien» und spätere Ständerat, bei der Verkündung des Resultats gesagt, und genau so hat es sich angefühlt.

Sie werden diesen Sonntag auch an der Jubiläumsfeier dabei sein. Was wird Ihre Botschaft sein?

Dass der Jura ein Kanton mit seinen Stärken und Schwächen ist. Wie aussergewöhnlich es ist, dass die meisten Menschen heute noch leben, die den Kanton damals geschaffen haben. Und dass wir stolz auf den Jura sein dürfen. Dieser Kanton hat sich auf eine Art und Weise entwickelt, die ziemlich unglaublich ist. Heute scheitern wir ja oft schon an einer Gemeindefusion – damals wurde ein ganzer Kanton geschaffen. Das ist erstaunlich!